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Interview mit Ahron Appelfeld
Was mich zum Protagonisten machte
Camillo Fornasieri

Der bedeutende jüdische Schriftsteller berichtet, weshalb er beim Meeting über den Religiösen Sinn spricht und über «ein Nichts, das nur wenig geringer ist als Gott». Denn es betrifft die Geschichte seines Lebens:
die Kindheit im Konzentrationslager, die Rückkehr nach Israel, die Entdeckung der Bibel und des Hebräischen.

Ahron Appelfeld ist nicht nur ein bedeutender Schriftsteller der Gegenwart, er ist auch ein echter Protagonist. Er bezeugt uns, wie ein Mensch, dem alles genommen wird, alles wiederfinden und auf neue, unerwartete Weise besitzen kann. Er durchlebt die schmerzhafte Erfahrung, Opfer eines grausamen Plans zu sein, der aus dem Ich einen «Niemand» machen wollte.
Appelfeld, dessen Werk Geschichte eines Lebens 2006 im Rowohlt-Verlag erschien, wird auf dem diesjährigen Meeting sprechen. Obwohl seine Bücher in 26 Ländern und mehr als 30 Sprachen veröffentlicht wurden, ist der Dozent an der Ben-Gurion-Universität in Beer-Sheva in Südisrael kein Mann, der die Öffentlichkeit sucht. Und er ist auch kein «Autor der Schoah», wie man ihn unpassenderweise etikettiert hat, sondern ein Mensch von ergreifender Größe, Intelligenz und Menschlichkeit. Verbunden mit einem außerordentlichen Schriftstellertalent, dem er sich fast acht Stunden am Tag widmet.

Für ihn ist sein eigenes Leben, das Gedächtnis der Dinge und der Menschen, zum Stoff seiner Erzählung geworden. Und mit seiner Lebensgeschichte erschließt er zugleich die Welt. Appelfeld kam 1932 in Czernowitz, der Regionalhauptstadt der Bukowina in der Ukraine zur Welt. Nach der Ermordung seiner Mutter wird er mit acht Jahren zusammen mit seinem Vater in ein Konzentrationslager deportiert. Doch ihm gelingt die Flucht, allein. So lebt er fünf Jahre lang in den deutschen Wäldern, zwischen einer Bande von Räubern und Mördern und einem russischen Bordell. Als blondes Kind bewahrt er mit Stolz das Geheimnis, dass er Jude ist, während er sieht, wie das Menschliche und eine ganze Welt «dem Ende zugeht»; so formulierte er es im Oktober im Mailänder Kulturzentrum.

Der Schriftsteller empfängt uns in seinem Haus in Mevassereth (der Ortsname bedeutet «Verkündigung Zions»), das neun Kilometer von Jerusalem entfernt ist. Auf dem Meeting in Rimini möchte er erzählen, was für ihn der religiöse Sinn bedeutet: Eine gelebte Spannung des Menschen, der Staub ist, ein Nichts – und der doch nur wenig geringer gemacht ist als Gott.

Wer sind die Protagonisten Ihrer Bücher, und woran möchten Sie uns als Schriftsteller teilhaben lassen?
Ein Schriftsteller schreibt über sich selbst: Er ist der Alte, das Kind, die Frau. Im Grunde sind alle Personen seiner Bücher der Schriftsteller selbst. Und das gilt besonders in meinem Fall. Wenn aber der Schriftsteller von sich selbst spricht, ohne all die Menschen zu berücksichtigen, die sein Leben umgeben, endet sein Schaffen: Er wird beschränkt und engstirnig, Opfer einer Egozentrik.

Nachdem die Welt Ihrer Heimat untergegangen war, kamen Sie im Jahre 1946 ganz allein nach Israel. Wie haben Sie begonnen, sich selbst zu suchen, wie sind Sie Protagonist Ihres Lebens und Schriftsteller geworden?
Ich hatte das Glück, in jungen Jahren die Wiedergeburt der hebräischen Sprache mitzuerleben. Als ich ins Heilige Land kam, sprachen etwa 200.000 Leute Hebräisch. Das Bedürfnis und die Sehnsucht, die Namen meiner Liebsten erneut auszusprechen, drängten mich, es in einer neuen Sprache zu tun. Das war der schmerzhafte Anfang, ein Sich-Losreißen. Durch das Hebräisch konnte ich wieder Zugang zur Bibel finden. Ich wurde in einem Kibbuz aufgenommen, wo jemand mir eine Bibel gab. Ich erinnere mich, wie ich als Kind Tag für Tag ein oder zwei Kapitel aus der Bibel abschrieb. Durch dieses Abschreiben näherte ich mich dem hebräischen Originaltext. Seitdem lese ich jeden Tag ein paar Kapitel aus der Bibel. Sie ist also meine erste und letzte Schule, meine Schriftstellerschule. Ich verstand sehr klar, dass die Welt, die ich hinter mir gelassen hatte – die Eltern, das Haus, die Straße, die Stadt – in mir lebendig und verwurzelt war, und dass alles, was ich erlebte und erleben sollte, mit der Welt zusammenhing, in der ich aufgewachsen war. In dem Augenblick, wo ich dies begriff, war ich kein Waisenkind mehr, das seine Einsamkeit mit sich herumschleppt, sondern wurde ein Mann, der die Welt anpackt.

In Geschichte eines Lebens schreiben Sie: «Die Literatur ist, sofern sie echte Literatur ist, die religiöse Melodie, die wir verloren haben» …
Ein Großteil meiner Personen hat eine Beziehung zum Göttlichen, und gelegentlich ist ihnen das nicht bewusst. Sie gehören keiner institutionalisierten Religion an. Dieses Phänomen gibt es vor allem bei den Kindern, die sich dieser Fähigkeit, die sie haben, nicht bewusst sind. Ich komme aus einer nicht religiösen Familie. Aber mein Vater war ein Kleinindustrieller, und wir hatten im Haus zwei ukrainische Dienstmädchen, die hingegen religiös waren. Ich erinnere mich an den starken Eindruck, den eine von ihnen auf mich gemacht hat, als sie einige Ikonen hervorholte und zum Gebet niederkniete. Vielleicht war das der erste konkrete Ausdruck von Religiosität, dem ich begegnet bin, mein erster Kontakt mit dem Glauben. Aber das Interessante ist, dass ich durch das Christentum zum Glauben gekommen bin, denn jetzt bin ich ein religiöser Mensch. Das ist paradox! Später hat die Bibel mit ihren Texten mich einige Dinge gelehrt, die Grundlage jeglichen religiösen Elements sind. Zum Beispiel: Stille ist wichtiger als Reden. Die Rede ist begrenzt, die Stille unendlich. In vielen Fällen ist die Rede eine Maskerade.
Alain Finkielkraut hat Sie einmal als jemanden beschrieben, der dem Gedächtnis nah und der Redegewandtheit so fern wie möglich bleiben will; jemand, der schreibt, um das Leben den dahingesagten, leeren Worten, den Gemeinplätzen zu entziehen. Ist das Zeugnis für Sie der Maßstab?
Zu Kriegszeiten ist es nicht die Stimme, die spricht, sondern die Gesichter, die Hände. Aus dem Gesichtsausdruck konntest du verstehen, ob der Mensch neben dir bereit war, die zu helfen, oder Ränke gegen dich schmiedete. Die Worte halfen nicht zu verstehen. Aber die Hand, die dir ein Stück Brot reichte oder einen Becher Wasser, wenn du vor Schwäche auf die Knie fielst, die wirst du nie wieder vergessen. Das Hebräische hat eine Neigung zum Minimalismus: wenn du etwas mit zwei Worten ausdrücken kannst, nimm keine drei. Diese Sparsamkeit rührt von der Idee her, dass dem Wort eine besondere Heiligkeit innewohnt und es daher verboten ist, es zu beschmutzen. Das Hebräische schwelgt nicht in Beschreibungen, weshalb wir nichts wissen über die äußere Gestalt Abrahams, der Patriarchen oder anderer Gestalten. Alles konzentriert sich auf die Gesten, die Handlungen. Die Helden, die Protagonisten der Bibel haben fast alle keine besonderen Gaben, sie sind nicht schon im Voraus heilig …

Was heißt das?
Abraham ist eine sehr konkrete, materielle Gestalt. Auf der anderen Seite spricht er mit Gott, diskutiert, verhandelt. Die Protagonisten der Bibel sind konkrete, rohe Personen, voller Instinkte und Triebe, voller Schwächen, aber sie haben eine geradezu natürliche Beziehung zum Göttlichen. Die Bibel war meine Schriftstellerschule, und ich füge jetzt hinzu, ihre Protagonisten waren für mich ein Beispiel für mein persönliches Leben. Es wäre überzogen zu sagen, dass ich den Spuren Abrahams folge oder seine Größe anstrebe. Die konkrete, menschliche Seite Abrahams ist mir klar; aber seine Erfahrungen, seine Visionen sind für mich undenkbar. Diese Schule ist wie ein Gebirge, das ich kaum zu besteigen vermag. Sie bildet so etwas wie einen Spiegel, in dem ich mich selbst jeden Tag widergespiegelt sehe. Ich weiß, dass ich dem Göttlichen fern bin, also habe ich einen Spiegel, und meine Schule ist die Bibel.

Im Allgemeinen versteht man unter einem «Protagonisten» den, der Erfolg hat, aber oft bedeutet das einen Verzicht auf die eigenen Erwartungen. Wir sind eingezwängt zwischen einer Gleichmacherei und einem sanften Nihilismus: dem «Nicht-zuviel-Ersehnen».
Ich hatte das Glück, ich sage das ironisch, meine Kindheit in der Hölle zu verbringen, und seit ich sie verlassen habe, habe ich eine andere Empfindung für das Leben als die, die nicht dort gewesen sind. In einer menschlichen Hölle zu leben, wo die Leute dich Stunde um Stunde, Moment für Moment bestrafen, kann dich in einen Zyniker verwandeln. Die Welt nach der Schoah erscheint als Welt ohne Gott, in der nur die Kräfte des Bösen herrschen. Unter den Juden hingegen herrscht eine tragische Lage: Ende des 19. Jahrhunderts verlor der größte Teil von ihnen den Glauben. Sie waren zum großen Teil ein Volk gewesen, das an Gott glaubte, eine Art religiöser Bindung hatte, das bereit war, für den Glauben zu sterben. Heute haben 80 Prozent oder mehr keine Bindung zum Göttlichen mehr, und den Mächtigen erscheint das unerheblich. Bei den wenigen, die noch glauben, ist der Glaube erstarrt, und sie sind sich dieser Tragödie nicht bewusst! Das jüdische Volk hat sich von den Quellen des Glaubens getrennt und viele Ersatzmittel für den Glauben geschaffen.
Für Sie sind die Bindungen die Substanz des Ichs. Sie haben geschrieben: «Der Gedanke, dass meine Eltern auf mich warteten, beschützte mich den ganzen Krieg lang. Die Wege führten aus dem Wald hinaus, aber nicht von meinen Eltern weg … Während der Kriegsjahre verschmolzen meine Eltern mit Gott zu einer himmlischen Gruppe, umgeben von Engeln und dazu bestimmt, mich aus meinem unglücklichen Leben zu erretten.»
Die Bibel hat mich Schreiben und Lesen gelehrt, deshalb hat sie mich herausgenommen aus einer Umgebung der Abwesenheit den Göttlichen. Statt «er ist gestorben» sagt man im Hebräischen «er ist von seinen Vätern empfangen worden». Der Tod ist eine Wiedervereinigung mit deinen Vätern. Nach der Schoah war ich ein Waisenkind und suchte eine Bindung zu meinen Eltern, Großeltern, Onkeln und Tanten. Diese Suche hat aus mir einen Schriftsteller gemacht, vor allem aber einen Gläubigen. Erneut mit ihnen leben zu wollen, könnte auf den ersten Blick wie ein Totenkult erscheinen, für mich aber war es ein Kampf gegen den Tod. Seitdem Augenblick, als ich mich wieder mit ihnen zusammenfand, war ich nicht nur eine normale, nicht in der Welt herumirrende Person, sondern ich erfuhr eine Verbindung zu etwas Großem, Wahrem und teilweise Göttlichem. Ich konnte den Zynismus verlassen, von Mensch zu Mensch mit den Leuten zusammenkommen, an den Menschen glauben. Ich danke Gott, denn ich wurde nicht der, der belehren will oder der mehr hat als andere: Ich habe gelernt, die anderen so zu lieben, wie sie sind.

Auf der Weltbühne scheinen vor allem die Ideologien und Pläne Protagonisten zu sein, oder, wie T. S. Eliot schrieb, die «Systeme, die so vollkommen sind, dass niemand mehr gut zu sein braucht» …
Ich war Opfer zweier Ideologien: des Nationalsozialismus, der meine Familie ausgelöscht hat, und des Kommunismus, dem meine Onkel zum Opfer fielen. Sie waren zwar Kommunisten, gehörten aber nicht zur Partei. Beide Ideologien haben uns ermordet, weil wir Juden waren. Ich hatte niemals eine Beziehung zu den Ideologien. Sie dienen nicht dem Wohl des Menschen, sondern gereichen ihm nur zum Schaden. Ich höre nicht auf sie, ich höre die Stimme des Menschen als Mensch und des Menschen als soziales Wesen.

In Geschichte eines Lebens schreiben Sie: «Ich habe gelernt, die Schwäche zu respektieren und zu lieben: die Schwäche ist unser Wesen und unsere Menschlichkeit … Der Moralist ignoriert die eigenen Schwächen und richtet seine Ansprüche statt auf sich selbst auf den Nächsten.»
Wenn wir auf den Nihilismus schauen, der die Gesellschaft durchdringt, dann trifft er das Herz des Menschen. Eine Gesellschaft, die im Namen des Kollektivs den Einzelnen vergisst, kann keine menschliche Gemeinschaft sein. Im Judentum steht geschrieben, dass der, der einen einzigen Menschen rettet, die ganze Welt gerettet hat. Leider ist die moderne Gesellschaft eine Massengesellschaft geworden, in der der Einzelne aufgesogen wird. Das ist der Prozess der Entmenschlichung, den wir durchlaufen.