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Kirche - Interview mit Pater Wladimir Smalij
Die Hoffnung des Papstes ist auch unsere Hoffnung
Giovanna Parravicini

«Die Enzyklika Spe salvi ist auch für die Orthodoxe Kirche grundlegend, weil sie von einer Gewissheit spricht: Das Leben in Christus ist voller Glück, das es zu teilen gilt». Das sind Worte des Vizedirektors der orthodoxen theologischen Fakultät von Moskau. Er hat die Enzyklika am 25. März gemeinsam mit dem Erzbischof von Moskau, Paolo Pezzi, vorgestellt. Spuren erklärt er, weshalb dieses Dokument ein gemeinsamer Schritt ist.

Pater Wladimir Šmalij, stellvertretender Rektor der Theologischen Akademie von Moskau und Sekretär der Theologischen Kommission der Synode des Patriarchats von Moskau, hat zusammen mit Monsignore Paolo Pezzi, dem katholischen Erzbischof von Moskau, am 25. März im Kulturzentrum «Bibliothek des Geistes» die Enzyklika Spe salvi vorgestellt. Im folgenden Gespräch geht er auf die Bedeutung der Enzyklika auch mit Blick auf das Leben von Kirche und Gesellschaft in Russland ein.

Die Enzyklika Spe salvi thematisiert eine theologische Tugend und zugleich ein tiefes Grundbedürfnis der Menschen aller Zeiten. Wie Sie bei der Vorstellung des Textes betont haben, versucht der Papst, die Antworten des Christentums und der Welt auf die Frage nach dem Sinn des Lebens zu vereinen. Das bezeugt eine große Aufgeschlossenheit für den Dialog und die feste Überzeugung, dass der Glaube, das Ereignis Christi, nicht nur dem Kreis der Gläubigen, sondern dem Menschen schlechthin Antwort zu geben vermag. Ist es nicht genau das, was die laizistische Kultur von heute bestreitet, nämlich den Anspruch der Kirche, das Ghetto, in das man sie verbannt, sei es auch noch so schön vergoldet, zu verlassen?
Meines Erachtens berührt die Enzyklika ein hochaktuelles, ein entscheidendes Thema. Denn der Verlust aller Hoffnungen scheint das charakteristische Merkmal unserer Zivilisation zu sein. Sie ist anscheinend satt und selbstzufrieden, zeigt aber in Wirklichkeit auf Schritt und Tritt die eigene Verzweiflung und Aussichtslosigkeit. Das wichtigste Anzeichen für dieses Phänomen ist nicht einmal der hohe Prozentsatz an Suiziden, sondern die vielen Ablenkungen, nach denen die Menschen suchen, um ihre geistige Leere zu kompensieren: die Massenkultur, der Konsum (…) man versucht sich aufrecht zu halten, indem man einkauft, das Leben mit Dingen anfüllt. Als Priester begegne ich vielen Menschen, die bei der Kirche anklopfen, weil sie sich verloren fühlen, orientierungslos sind. Oft merken sie nicht einmal, dass ihre Probleme daher rühren, dass sie auf nichts mehr hoffen.
Die Hoffnung – darauf weist der Papst ganz zu Recht hin – ist der Motor der Existenz des Menschen, und zwar nicht nur für Christen sondern für alle Menschen. Deshalb ist der Dialog mit der Gesellschaft, mit der Welt, über die Grundlagen der Hoffnung so unabdingbar. Mir scheint darüber hinaus die Hoffnung etwas sehr Persönliches, Intimes zu sein. Im Gegensatz dazu versucht in unserer Welt jeder durch Äußerlichkeiten das zu kompensieren, was ihm innerlich fehlt, und lässt niemanden die Grenze überschreiten, die zum Herzen des Menschen führt, an das aber der Papst sich wendet. Mich hat die Feinfühligkeit Benedikt XVI. beeindruckt, der sich nicht wie ein strenger Richter verhält und von oben herab harte Lehren erteilt, sondern äußerst feinfühlig der einzelnen Person Antworten nahe legt und zugleich mit großer Nüchternheit und Bestimmtheit die Fehler und Missverständnisse aufzeigt, denen wir bei unserem Verständnis von Hoffnung erliegen. So warnt er zum Beispiel vor psychologischen Verkürzungen der Hoffnung: Die Hoffnung ist eine konkrete, objektive Wirklichkeit.

In diesem Sinn zeigt Joseph Ratzinger ganz deutlich die Gefahren eines Subjektivismus auf, der im Westen eine ständige Versuchung ist und auch in das Gewissen der Christen eindringt. Demgegenüber ruft der Papst mit Macht zu einer Selbstkritik des modernen Christentums auf, das zu seinen Wurzeln zurückkehren muss. Was bedeutet für Sie heute dieser Weg für die Christen?
Mit dem Feingefühl und der Achtung gegenüber dem Gesprächspartner, die ihn auszeichnen, macht der Papst darauf aufmerksam, dass die Christen selbst eine subjektivistische Reduktion vorgenommen haben, und zitiert bezeichnenderweise ein Beispiel für eine Interpretation, die auf Luther zurückgeht, aber sich auch in der katholischen Exegese durchgesetzt hat. Es ist interessant, die Methode des Papstes zu beobachten, der sich dieses Beispiels konstruktiv, ökumenisch bedient, um gleichsam die Protestanten selbst einzuladen, an die Quellen der eigenen Identität zurückzukehren und die Gewissheit der eigenen Rettung wieder zu erlangen.

Welche Aspekte der Enzyklika scheinen Ihnen besonders interessant mit Blick auf die Lage in Russland?
Meiner Meinung nach gibt es darin keine Elemente, die spezifisch Russland betreffen. Benedikt XVI. wendet sich an den Menschen als solchen, an die Christen aller Traditionen und an die Nichtchristen. Der Inhalt von Spe salvi ist vielleicht für uns Orthodoxe in Russland besonders wichtig, weil sie von der Hoffnung als Gewissheit spricht, als objektives Unterpfand des ewigen Lebens. Daraus folgt ein missionarischer Eifer: Kraft des Glaubens und der auf ihm beruhenden sicheren Hoffnung sind wir aufgerufen zu bezeugen, dass das Leben in Christus ein Leben voller Gewissheit und Glück ist, das wir die Pflicht haben mit anderen zu teilen. Der Abschnitt über das Mit-Leiden, das den Heiligen eigen ist, hat mich tief getroffen. Wie viele Beispiele für Leid haben wir vor Augen, welch große Aufgabe ist das Mit-Leiden für uns (…). Wir Christen können nicht am Fenster stehen, überheblich den Leiden der Welt zuschauen und uns mit einem individuellen, egoistischen Heil zufrieden geben.

Die Heiligen sind zuallererst Zeugen...
Auch hier müssen wir zur einen Tradition der ungeteilten Kirche zurückkehren. Der heilige Athanasius sagt: Wenn jemand nicht an die Auferstehung glaubt, soll man ihm das Beispiel der Märtyrer vorhalten, die ihr Leben gering geachtet und es in Einfachheit hingegeben haben. So haben sie beredt ihre Gewissheit des von Christus gebrachten neuen Lebens bezeugt. Wie viele Zeugen haben wir auch heute vor Augen! Ich denke nicht nur an die «Heiligen», die heilig gesprochen sind, sondern an die vielen, die ihre Berufung froh leben und ihre Gewissheit in den täglichen Prüfungen bezeugen, in der Prüfung (…). Ich denke an alle, die den Mut haben, eine Familie zu gründen und keine Angst vor einer zahlreichen Familie haben; an alle, die eine Krankheit als Opfer leben, an die Gott geweihten Personen. Ich hatte das Glück, sehr vielen Menschen zu begegnen, die die Hoffnung objektiv und substanziell leben. Wir müssen lernen hinzusehen, um die vielen Zeugen zu bemerken, die uns umgeben. Wir dürfen uns nicht schämen, ihr Beispiel anzuführen, daran zu erinnern, wie die Hoffnung, die der Glaube uns schenkt, dabei hilft, die verschiedensten Lebensumstände zu ertragen.

Was fehlt Ihrer Meinung nach dem Gewissen der Christen am meisten und was braucht es am nötigsten, um wieder aufzuwachen?
Es gibt etwas an der Gestalt Papst Benedikt XVI., das mir auffällt und besonders gefällt, und zwar seine Sympathie, seine Wertschätzung der Rationalität, der Vernünftigkeit. Dieser Aspekt fehlt gerade heute oftmals uns Orthodoxen. Allerdings versteht man den Sinn dessen auch im Westen. Und so glauben viele Westeuropäer, uns ein Lob zu spenden, wenn sie uns sagen: «Sehen Sie, bei uns ist alles auf Rationalismus reduziert, es gibt keinen Raum mehr für Gefühle und Gefühlsregungen, während ihr Orthodoxen die Mystik habt». In Wirklichkeit reduziert sich diese angebliche «Mystik» oft auf den Verzicht auf die eigene Vernunft, auf die eigene Verantwortung, um dann die Lebensentscheidungen an einen «geistlichen Vater» zu delegieren. Nein, der Christ muss wieder begreifen, dass die Vernunft uns als Geschenk und als Verpflichtung gegeben ist: In ihrem Licht müssen wir leben und das Leben verändern. Nicht zufällig wird Christus in der orthodoxen Liturgie als «Licht der Vernunft» definiert! Dies ist eine Wahrheit beider christlicher Traditionen, des Ostens und des Westens, während die Betonung eines Mystizismus, der in Wirklichkeit Verzicht auf die eigene Vernunft bedeutet, erst eine späte Erscheinung der Orthodoxie ist. Nehmen wir aber das Beispiel des Aristotelikers Johannes Damaszenus, oder die Väter Kappadokiens, so finden wir eine Verherrlichung der menschlichen Vernunft. Ebenso bringt das philosophisch-religiöse Denken Russlands am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts eine Rückkehr zu den Vätern und zu ihrer integralen anthropologischen Sicht mit sich. Es verwundert nicht, dass auch ein konservativer Orthodoxer wie Georgij Florowskij dazu einlädt, außer den Vätern auch die mittelalterlichen katholischen Autoren zu lesen: gerade weil es da möglich ist, sowohl im Osten wie im Westen die gleichen Wurzeln zu finden, den gleichen christlichen Eifer, der identisch ist in der Verwandlung des ganzen Menschen in allen Aspekten seines Seins, einschließlich der Vernunft. Dagegen verführt der Einfluss der Ideologien dazu, das Christentum für unvernünftig zu halten, begrenzt auf die mehr äußerlichen Bereiche, auf das Emotionale und Sentimentale, es für ein «Trostpflaster» zu halten für existenzielle Beschwernisse, deretwegen man sich, falls nötig, an den Priester wenden kann, wie sonst an einen Psychotherapeuten.

Der Glaube ist also ein Weg der Erkenntnis?
Gewiss, als vernünftiges Wesen kann ich nicht umhin, die Wirklichkeit in Betracht zu ziehen, also mir ihrer bewusst zu werden und ein moralisches Urteil über sie abzugeben. Wenn ich auf die Vernunft verzichte, verzichte ich dadurch auch auf mein Gewissen, meine Verantwortung und voll entwickelte Freiheit. Es ist interessant, dass die Ablehnung der Vernunft als Faktor der christlichen Persönlichkeit zu zwei sich berührenden Extremen führt: Im Osten zum Infantilismus dessen, der jede Verantwortung der geistlichen Autorität überträgt, im Westen zur angemaßten Autonomie einiger Bereiche der menschlichen Person. In beiden Fällen handelt es sich um einen Dualismus, um einen Widerspruch, der eben unvernünftig ist, der antichristlich ist, aber auch und vor allem unmenschlich, weil er gegen das Kennzeichen des menschlichen Wesens verstößt, seine Vernunft. Ich glaube, dass wir hier eine der grundlegenden erzieherischen Aufgaben vor uns haben: Unseren Leuten, unseren Jugendlichen beizubringen, verantwortlich zu sein und Verantwortung kann nur im Licht der Vernunft bestehen. Wenn die Vernunft nicht über Gefühle und Emotionen herrscht und urteilt, wer könnte dann die eigene Berufung, die eigene Sendung, und die Vollendung eines Werkes durchhalten?

Warum wird die Kirche häufig als Ort der Verbote, der Regeln angesehen, die versuchen, unsere Wünsche zu zügeln, und nicht als Ort für ihre Verwirklichung?
Es ist nicht leicht darauf zu antworten, aber ich glaube, man braucht auch den Mut anzuerkennen, vor allem, dass ein großer Teil der Wünsche die unsere Gesellschaft weckt und nährt, sich als für den Menschen schädlich herausstellt. Man braucht nur die Werbung anzuschauen, die gesellschaftlichen Stereotype, die uns im Fernsehen verabreicht werden. Wir können uns nicht der Frage entziehen, ob es das wirklich ist, wonach sich unser Herz sehnt, oder das, was sie uns einschärfen wollen und was sich letztlich als negativ herausstellt, als für uns schädlich. Was ich sage, mag bitter scheinen, unpopulär, ist aber eine notwendige Diagnose, wollen wir von unserer existenziellen Krankheit genesen: Auch bei den Wünschen können wir nicht ohne die Vernunft auskommen, vor einem dringenden Wunsch, der sich mir in den Weg stellt, muss ich ein Urteil fällen, muss ihn im Licht der Vernunft prüfen. Es ist übrigens kein Zufall, dass der Papst in Spe salvi Christus als «Hirten» und als «Philosoph» beschreibt, also als Meister des Lebens, aufgrund der eigenen Erfahrung, des eigenen Beispiels und des menschlichen Werkzeugs schlechthin, nämlich der Vernunft.
Es ist interessant, der Überlegung Benedikt XVI. zur Überwindung der Ideologie zu folgen, die ein weiteres gemeinsames Thema für den Westen und für Russland ist. Man achte darauf, dass sich der Papst vor allem auf die Ideologie in der Gestalt des «social engineering», des Fortschrittsglaubens bezieht und den Marxismus nur als ein Beispiel dafür erwähnt. In der Tat ist mit dem Fall des Marxismus die Fortschrittsideologie nicht verschwunden und erweist sich nach wie vor als gefährlich für die menschliche Zivilisation. Hier in Russland sind wir vielleicht gegen bestimmte Formen der Ideologie besser «geimpft», aber wir sind wehrlos gegenüber anderen. Ich wiederhole noch einmal, das Problem der Ideologie ist heute immer noch dasselbe, auch wenn die Formen und Bedingungen, unter denen das Phänomen auftauchen kann, sich ändern.

Häufig weist man auf den sozialen und karitativen Bereich als bevorzugtes Thema für den Dialog zwischen Christen verschiedener Kirchen hin, weil er am neutralsten zu sein scheint. Läuft man aber nicht Gefahr, das Spezifische des christlichen Faktums aufzulösen, wenn man es einer Ethiklehre gleichstellt? Worauf kann sich Ihrer Meinung nach ein echter Dialog und eine echte Zusammenarbeit zwischen Christen und insbesondere zwischen Katholiken und Orthodoxen gründen mit dem Ziel, der Welt wieder die wahre Hoffnung vorzuschlagen?
Monsignore Ilarion Alfeew, russisch-orthodoxer Bischof von Wien, hat mehrfach von der Notwendigkeit gesprochen, dass Katholiken und Orthodoxe gemeinsam Antworten auf moralische, soziale und politische Probleme suchen und vorschlagen. Aber diese interkonfessionelle Diskussion muss auf sozialem Gebiet von einer breiter angelegten Debatte begleitet werden über die Rolle, die das Christentum zum Wohl der ganzen Gesellschaft spielen soll. Der Papst arbeitet an einer feinfühligen aber klaren Formulierung des Vorschlags der Kirche, die Probleme, die unsere heutige Gesellschaft zerreißen, einer Prüfung zu unterziehen, und er lädt alle gesellschaftlichen Kräfte ein, sich an der Diskussion zu beteiligen. Die christlichen Gemeinschaften müssen vor allem auf dem Feld der Teilnahme am Leiden aktiv werden und der Welt Zeugnis geben von der Alternative, die das Christentum zur Verzweiflung der heutigen Gesellschaft darstellt. Hier erlebt das Problem der Erziehung ein Comeback, und das kann nur geschehen durch eine Begegnung, ein Zeugnis. Bloße Worte oder Klischees überzeugen die Jugendlichen nicht. Nur lebendige Zeugen der Schönheit sind überzeugend. Das Christentum ist ein Leben und es ist unsere Aufgabe, als Christen zu bezeugen, dass es die Hoffnung ist, von der wir leben. Das Christentum hat die Welt als neues Leben besiegt und nicht als Ideologie. Es ist, wie der Papst sagt eine «performative» Wahrheit und nicht bloß «Information». Auch in unserer Kirche stellt sich heute das Problem des Zeugnisses der Laien, das im Augenblick noch nicht fixiert und kodifiziert ist wie in der Lehre der katholischen Kirche. Aber es ist sicher eine Frage von höchster Bedeutung für das künftige Leben der Kirche. Wie ihr sagt: «Laie, also Christ» – zur Verwandlung der Welt.