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CL / Los Angeles
Wie eine Gemeinschaft entsteht
Paola Bergamini

Gewöhnliche Umstände, die für einen Italiener, der in Hollywood und Umgebung arbeitet, zu Gelegenheiten der Begegnung und vor allem des Wagnisses geworden sind. Auf diese Weise ist in der Hauptstadt der Kurzlebigkeit eine eigenartige Präsenz aufgeblüht.

Los Angeles. In den Büros der Film-Abteilung von Walt Disney herrscht dicke Luft. Die Nachricht ist offiziell: Die Firmenleitung hat beschlossen, das Personal um 300 „Einheiten“ zu reduzieren. Guido wartet an seinem Schreibtisch nur auf den Anruf vom Chef. Da er am kürzesten in der Firma arbeitet ist er sich sicher, auf der Liste zu stehen. Er ist zwar seit vier Jahren bei Walt Disney, aber erst seit sechs Monaten in diese Abteilung. Und nur diese Monate zählen. Am Ende des Tages kommt der Anruf; er ist der letzte. «Es tut mir Leid, Herr Picarolo, es tut mir wirklich Leid…». Seine Augen sind feucht. «Auch mir tut es Leid, nicht nur, weil ich eine neue Arbeit finden muss. Für mich ist die Arbeit der Ausdruck dessen, was mir am meisten am Herzen liegt und hier war es möglich, das zu leben». «Man hat es gesehen. Mit dir zusammen zu arbeiten, war anders. Deswegen habe ich erreicht, dass du noch ein Jahr bleiben kannst [normalerweise beträgt die Kündigungsfrist in den USA nur zwei Wochen; Anm. d. Red.] und ich will dir helfen, eine neue Arbeit zu finden». Der Chef der Personalabteilung ist schockiert. So etwas hat es nie gegeben, höchstens ein paar Tränen, Ausflüchte, Feilschen um die noch zu zahlenden Arbeitswochen. Das typisch-amerikanische Profitdenken und das Streben nach Macht sind aus den Angeln geraten. Ein Weiterer Faktor ist ins Spiel gekommen: Eine Zuneigung zur Wirklichkeit, zum Anderen. Der Wiederschein einer größeren Liebe, die dich umarmt hat und die Beziehungen auf überraschende Weise verändert. «Für mich war es immer so- schon seit ich 1994 als frisch gebackener Volkswirtschaftsabsolvent den Vorschlag von Carlo Wolfsgruber angenommen hatte, nach New York zu ziehen, wo Pater Marino um die Präsenz eines Haus der Memores gebeten hatte. Ich konnte nichts… nicht mal Englisch. Ich habe „ja“ zu einem Blick voller Zuneigung gesagt». Das berichtete er mir in La Thuile bei der Versammlung der Verantwortlichen, wo wir uns erst nach 15 Jahren wiedersahen. Während er sprach merkte ich, dass sein Blick offener und liebevoller geworden ist.

In den Umständen
Zwei Jahre bei Pater Marino, dann die Anstellung in einer Telekommunikationsgesellschaft «in der dir Leute, die jünger sind als du, sagen, was zu tun ist. Aber genau da spielt sich das Leben ab und es geht auch durch die Fotokopien hindurch, die ich teilweise den ganzen Tag machen musste», erinnert er sich. Nach sechs Monaten ruft ihn der Chef zu sich: «Ich benötige einen Vertrauensmann in Los Angeles. Ich habe gesehen, wie du arbeitest; ich glaube an dich. Aber hier hast du keine beruflichen Möglichkeiten. Willst du gehen?». In Los Angeles gibt es nichts: Keine Gemeinschaft, kein Haus der Memores Domini. Guido schreibt an Don Giussani, um ihn aus zwei Gründen um die Erlaubnis zu bitten, gehen zu dürfen: Erstens, die Möglichkeit einen Beruf zu erlernen und zweitens um auch dorthin die Schönheit der Erfahrung zu bringen, die er lebt. Nach wenigen Tagen erreicht ihn durch Giorgio Vittadini die Antwort: «Das ist großartig. Don Giussani dankt dir. Es wird bald ein Haus der Memores geben». Dann folgt der Aufbruch. Die ersten drei Monate verbringt er alleine. «Während dieser Zeit habe ich immer um die Begleitung Christi in meinem Leben gebeten und allein die Tatsache, dass man bittet, bewirkt, dass man nicht alleine ist. Es war kein Warten, das das Leben blockiert. Jeder Tag war reich an Möglichkeiten, um an Seiner Seite zu bleiben». Es ist eine andere Art und Weise, die Wirklichkeit zu umarmen, die in der Arbeit, in der Pfarrei, wo sich Guido nun oft aufhält, und in den alltäglichen Beziehungen sichtbar wird. Nach drei Monaten kommt Carlo für acht Monate, um seine Diplomarbeit zu schreiben, und dann Mauro, der definitiv bleibt. Hier ist also das Haus der Memores, Don Giussani hatte Recht gehabt. Ein Jahr später wechselt Guido die Arbeit, um in Los Angeles bleiben zu können. Die Firma ist in der Expansionsphase und der Rhythmus ist hektisch: 12 Arbeitsstunden pro Tag, einschließlich Samstag und Sonntag. Wie konntest du dem standhalten? Guido lächelt: «Das ist keine Frage des Durchhaltevermögens, sondern es geht darum, die Dinge bis auf den Grund zu leben. Ich habe nie gedacht: Draußen spielt sich das ab, was mich interessiert; schade, dass mir so wenig Zeit bleibt. Ich war dort mit meiner ganzen Person. Also habe ich abends, wenn es spät wurde, für alle Essen geholt, um gemeinsam eine Pause zu machen und sich zu unterhalten. Und manche fragen nach deinen Freunden, was du so zu Hause machst oder… was du zu der Armut in der dritten Welt sagst und du antwortest, dass du sonntags Caritativa mit Kindern machst; du sprichst von dem, was dir am meisten am Herzen liegt. Und so manche lädst du zu einem italienischen Essen nach Hause ein». Auf diese Weise blühen unerwartete Beziehungen auf; auf diese Weise ist die Gemeinschaft in Los Angeles entstanden. Ohne irgendetwas zu erfinden; ohne große theoretische Diskurse zu führen.
So war es auch mit Jennifer. Mauro hatte sie bei einer Hochzeit kennen gelernt und zum Mittagessen nach Hause eingeladen. Sie erzählte von der schwierigen Situation ihrer Familie: Sie ist geschieden und kümmert sich um ihre beiden Kinder. Die Freunde leisten ihr Gesellschaft. Guido durchquert, wenn nötig, die ganze Stadt, um ihren Kindern bei den Hausaufgaben zu helfen. Sie laden sie zum Seminar der Gemeinschaft ein. Da sie sich keinen Babysitter leisten kann, wechseln sie sich mit der Betreuung ab. Als die Kinder die Schule wechseln sollen, aber Jennifer nicht genug Geld hat, ruft Guido seine Freunde von der Fraternität in Italien an. So gibt es jetzt eine \\'Brücke\\', die Mailand mit Los Angeles verbindet: Jennifer schreibt an Laura und erzählt ihr von ihren Kindern, vom Seminar der Gemeinschaft, von den Schwierigkeiten in der Arbeit, … vom ganzen Leben. Wofür macht man so etwas, wenn nicht wegen der Anerkennung einer Gegenwart, die sich in den Umständen des Lebens zeigt – und die es verändert. Wie bei Brenda. Mauro lernte sie in der Arbeit kennen und lud sie zum Seminar der Gemeinschaft ein. «Brenda, eine Astrophysikerin ist genau dieselbe Frau, die Marco Bersanelli in Lüttich beeindruckte, und zwar durch ihre Art und Weise die Arbeit anzugehen», erklärt mir Guido.
Pater Robby zeigte sich hingegen etwas skeptisch gegenüber diesen Italienern. Eines Tages machten sie ihm folgenden Vorschlag: «Warum kommen Sie nicht mit uns in Ferien?» Nach den gemeinsam verbrachten Tagen, hat er sie nicht mehr verlassen: «Mit 70 Jahren ließ mich die Begegnung mit der Bewegung den Ursprung meiner Berufung neu entdecken», meinte er. Und dann ist da noch Nancy. «Ich habe sie bei Walt Disney kennen gelernt», erzählt Guido. Ein weiterer Wechsel der Arbeit? «In Italien seid ihr nicht daran gewöhnt, aber hier in Amerika ist dieser turn over ziemlich normal. Zumal in meinem Falle die Firma Konkurs gemeldet hatte». Nancy ist Protestantin. Sie werden Freunde. Nach drei Jahren nimmt sie an der Caritativa teil. Nach einem weiteren Jahr kommt sie zum ersten Mal zum Seminar der Gemeinschaft. Letzten April ist sie katholisch geworden. «Früher dachte ich, dass ich mir mein Leben selbst entwerfe. Jetzt lebe ich hingegen meine Bestimmung, indem ich mich ganz auf einen Anderen verlasse», erklärte sie vor einigen Tagen.

Die Stadt des Kurzlebigen
Bei Claudia, die aus San Salvador stammt und in den 80-er Jahren wegen des Bürgerkriegs in die USA flüchtete, war es der Pfarrer der Sankt-Sebastian-Kirche, der ihr den entscheidenden Vorschlag machte: «Es gibt hier eine Gruppe von Italienern, die sich jeden Mittwoch treffen. Warum gehst du nicht hin, um sie kennen zu lernen?» Zusammen mit ihrem Mann Edwino kommt sie an einem Mittwoch zu dem Treffen. Diese Italiener sind einfach anders: Sie benutzen Worte wie „Geheimnis“, „Vernunft“, „Don Giussani“. Und diese neuen Freunde haben die beiden nicht mehr verlassen. «Es war unmöglich. Die Sehnsucht, zu ihnen zurückzukehren, war identisch mit der Sehnsucht nach jener Gegenwart, die sich in unserem Leben zu enthüllen begann», meint Claudia. In diesen Jahren entstand ein zweites Haus der Memores und die Begegnungen haben sich vervielfältigt: mit Beth, Paul, Christine und vielen anderen. Man hatte sich bei einer Party, bei der Arbeit oder bei einer von tausend anderen Gelegenheiten kennen gelernt. «Du lädst einfach Leute zu dir nach Hause zum Essen oder an den Strand zu einem Lagerfeuer ein oder zum Surfen.... Los Angeles ist die Stadt des Kurzlebigen, des Scheins. Du kannst dich entweder auf die etwas moralistische Geringschätzung all\\' dessen beschränken, oder du kannst in der Begegnung mit den Menschen diesen Schein umarmen. Und außerdem – wenn wir die schönsten Strände der Welt hier haben, warum sollten wir sie nicht genießen?»