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Weltbischofssynode 2008
Das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche
Julián Carrón

Beitrag von Don Julián Carrón, Präsident der Fraternität von Comunione e Liberazione Mittwoch, 8. Oktober 2008

Heiliger Vater,
verehrte Synodenväter,
Brüder und Schwestern!
Eine der tiefsten Sorgen der heutigen Kirche ist die Auslegung der Bibel. Dies haben das Instrumentum laboris [Arbeitsthesen der Bischöfe, A.d.Ü.] und die Generalrelation [zusammenfassende Ansprache des Generalrelators am Anfang und Ende der Synode, A.d.Ü] eindringlich zum Ausdruck gebracht (vgl. Instrumentum laboris 19-31). Das wesentliche Merkmal der Herausforderung, vor der wir angesichts der Frage der modernen Interpretation der Heiligen Schrift stehen, hat vor Jahren der damalige Kardinal Ratzinger herausgearbeitet: „Wie ist es mir möglich, ein Verständnis zu erreichen, das nicht auf der Willkür meiner Voraussetzungen gründet, ein Verständnis, das mir erlaubt, wirklich die Botschaft des Textes zu erfassen, um mir etwas zurückzugeben, dass nicht von mir selbst kommt?“ (der Originaltext L’interpretazione biblica in conflitto. Problemi del fondamento ed orientamento dell’esegesi contemporanea ist entnommen aus dem Sammelband L’Esegesi cristiana oggi, Casale Monteferrato 1991, S. 93-125). Die jüngeren Verlautbarungen des kirchlichen Lehramtes bieten uns in Bezug auf diese Schwierigkeit Elemente, die uns vor möglichen Verkürzungen bewahren. Es ist dem Zweiten Vatikanischen Konzil zu verdanken, dass das Konzept von der Offenbarung Gottes als ein Ereignis in der Geschichte wieder aufgenommen worden ist. In der Tat ermöglicht es die dogmatische Konstitution Dei Verbum, die Offenbarung als Ereignis der Selbstmitteilung des dreifaltigen Gottes im Sohn zu verstehen, „der zugleich der Mittler und die Fülle der ganzen Offenbarung ist“ (DV 2). In ihm leuchtet die „Tiefe der [...] über Gott und über das Heil des Menschen erschlossenen Wahrheit“ auf (ebd.), und zwar durch den Heiligen Geist in der Geschichte der Menschen. Es ist Christus, „der durch sein ganzes Dasein und seine ganze Erscheinung, durch Worte und Werke, durch Zeichen und Wunder, vor allem aber durch seinen Tod und seine herrliche Auferstehung von den Toten, schließlich durch die Sendung des Geistes der Wahrheit die Offenbarung erfüllt und abschließt und durch göttliches Zeugnis bekräftigt“ (DV 4). Völlig zu Recht erklärt die Enzyklika Deus caritas est deswegen: „Am Anfang des Christseins steht nicht ein ethischer Entschluß oder eine große Idee, sondern die Begegnung mit einem Ereignis, mit einer Person, die unserem Leben einen neuen Horizont und damit seine entscheidende Richtung gibt“ (DCE 1; vgl. auch FR 7). Dieses Ereignis gehört nicht nur der Vergangenheit an, einem Moment in Zeit und Raum. Es bleibt vielmehr gegenwärtig in der Geschichte und teilt sich selbst mit durch die Gesamtheit des Lebens der Kirche, die es aufnimmt. In der Tat: “das gleichzeitige Gegenwärtigsein Christi mit dem Menschen jeder Zeit verwirklicht sich im lebendigen Leib der Kirche” (VS 25; FR 11). Wie die Apostel das überlieferten, „was sie aus Christi Mund, im Umgang mit ihm und durch seine Werke empfangen“ (DV 7) hatten, so „führt die Kirche in Lehre, Leben und Kult durch die Zeiten weiter und übermittelt allen Geschlechtern alles, was sie selber ist, alles, was sie glaubt“ (DV 8). Genau wegen dieses Ereignischarakters der Offenbarung und ihrer Weitergabe hebt die Konzilskonstitution hervor, dass die Offenbarung als ein Ereignis eben nicht einfach mit der Heiligen Schrift identisch ist, auch wenn die apostolische Predigt „in den inspirierten Büchern besonders deutlichen Ausdruck gefunden hat“ (DV 8). Die Bibel bezeugt die ganze Offenbarung, enthält sie aber nicht erschöpfend in sich selbst: „So ergibt sich, daß die Kirche ihre Gewißheit über alles Geoffenbarte nicht aus der Heiligen Schrift allein schöpft“ (DV 9). Wenn die Offenbarung ein Geschehen in der Geschichte ist, dann muss der Mensch im Kontakt mit ihr direkt getroffen werden, weil er in seiner Vernunft und in seiner Freiheit herausgefordert wird. Gerade dies zeigen die Erzählungen des Evangeliums in ihrer Einfachheit. Sie bezeugen das Erstaunen der Menschen, das die Person Jesu in jeder Begegnung hervorrief (vgl. Mk 1,27; 2,12; Lk 5,9). Die Gegenwart Jesu macht den Blick und den Horizont weiter, damit wir das sehen und erkennen können, was wir vor uns haben (vgl. die Emmaus-Jünger in Lk 24). Genau darauf beharrt die Enzyklika Fides et Ratio: „Diese dem Menschen geschenkte und von ihm nicht einforderbare Wahrheit [der Offenbarung] fügt sich in den Horizont der interpersonalen Kommunikation ein. Sie drängt die Vernunft, sich der Wahrheit zu öffnen und ihren tiefen Sinn anzunehmen.“ (FR 13) Die Enzyklika beschreibt des weiteren die Auswirkungen der geoffenbarten Wahrheit im Menschen, der ihr durch einen zweifachen Impuls begegnet: a) Erweiterung der Vernunft, um sie dem Objekt anzupassen; b) die Aufnahme ihres tiefen Sinnes zu erleichtern. Anstatt die Vernunft und die Freiheit des Menschen zu erniedrigen, ermöglicht es die Offenbarung, beide in höchstem Maße von ihrem ursprünglichen Zustand aus weiterzuentwickeln. Die Beziehung mit der im Organismus der Kirche lebendigen Tradition gestattet es jedem Menschen, an der Erfahrung derer teilzunehmen, die Jesus selbst begegnen konnten. Diese waren so von Seiner Einzigartigkeit und Außergewöhnlichkeit überwältigt, dass sie einen Weg begannen, auf dem sie die Gewissheit über Jesu absoluten, d.h. göttlichen Anspruch erlangten. Wer diesen Weg geht, akzeptiert nicht naiv die Tradition, welcher er begegnet. Im Gegenteil, er unterzieht sie einer Prüfung und ermöglicht gerade so seiner eigenen Vernunft, die tiefere Wahrheit erst zu erfassen. Die Erfahrung der Begegnung mit Christus, der gegenwärtig ist in der lebendigen Tradition der Kirche, ist ein Ereignis und wird daher zum entscheidenden Faktor bei der Interpretation der Bibel. Es ist die einzige Art, um in Einklang mit der vom Text der Schrift bezeugten Erfahrung zu kommen. In der Tat ist “das richtige Verständnis des Bibeltextes nur demjenigen zugänglich, der eine gelebte innere Beziehung zu dem hat, wovon im Text die Rede ist” (PCB 70). Ich selbst konnte dieses hermeneutische Kriterium in einer einfachen, aber bezeichnenden Episode belegen, die ich vor Jahren in Madrid erlebt habe. Eine Jugendliche, die überhaupt keinen Kontakt mit dem Christentum hatte, begann nach der Begegnung mit einer lebendigen christlichen Gemeinde, an deren Leben und auch an der Heiligen Messe teilzunehmen. Nachdem sie die ersten Male das Evangelium verkünden gehört hatte, rief sie kommentierend aus: „Ihnen ist das gleiche wie uns geschehen!“ Es war das kirchliche Leben der Gegenwart, das den Sinn der Erzählungen aus dem Evangelium erschloss. Zusammenfassend kann man mit einem schönen Ausdruck von H.U. von Balthasar sagen: „Die Fähigkeit der Apostel zu glauben wurde ganz und gar durch die offenbarende Person Jesu hervorgerufen und erhalten.“ Der offenbarende Jesus selbst ermöglichte ihnen, das Geheimnis Seiner Person zu erfassen und ihr zu glauben und nachzufolgen. In vergleichbarer Weise benötigt auch unsere Vernunft heute ein in der Überlieferung durch lebendige Zeugen gegenwärtiges Ereignis, um sich dem Geheimnis Christi, der uns in diesen Zeugen entgegen kommt, zu öffnen. Doch wir werden die unverwechselbaren Züge Jesu Christi in diesen Zeugen nur dann erkennen, wenn wir mit dem einzigartigen, kanonischen und verbindlichen Zeugnis in den Heiligen Schriften vertraut sind. In ihnen sind die ursprünglichen Züge Jesu ganz und gar bewahrt. Der heilige Augustinus fasst all dies realistisch zusammen: “in manibus nostris sunt codices, in oculis nostris facta” [in unseren Händen halten wir Bücher, in unseren Augen spiegeln sich Ereignisse].

DV = Dei Verbum (dogmatische Konstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils)
VS = Enzyklika Veritatis splendor
FR = Enzyklika Fides et Ratio
DCE = Enzyklika Deus caritas est
PCB = Schreiben der Päpstlichen Bibelkommission: Die Interpretation der Bibel in der Kirche