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Aufmacher
Die Hoffnung, weit mehr als Optimismus
Don Julián Carrón

Vortrag bei der Buchvorstellung von Is it Possible to Live This Way? (Kann man so leben?), Dublin, 9. Januar 2009, New York, 17. Januar 2009

1. Die Erwartung als strukturelle Haltung des Menschen

«Hat uns je einer etwas versprochen? Und warum warten wir dann?» (C. Pavese, Das Handwerk des Lebens, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1987, S. 297). Don Giussani hat diese Frage des italienischen Dichters Cesare Pavese immer wieder zitiert, um zu zeigen, dass die Erwartung eine strukturelle Haltung des Menschen ist. Jeder von uns kann in seiner eigenen Erfahrung sehen, in welchem Maß sein Leben voller Erwartung ist, ganz gleich, welche Form das jeweils annimmt. Wir können also sagen, dass die Erwartung die Struktur unserer Natur ist, das Wesen unserer Seele. Don Giussani sagt über sie in seinem Buch Der Religiöse Sinn: «Sie ist nicht Berechnung: Sie ist geschenkt. Die Verheißung steht am Ursprung, am eigentlichen Ursprung unserer Beschaffenheit. Wer den Menschen erschaffen hat, hat ihn als „Verheißung“ geschaffen. Der Mensch ist von seiner Struktur her in Erwartung, von seiner Struktur her ein Bettler: Von seiner Struktur her ist das Leben Verheißung“»(L. Giussani, Der Religiöse Sinn, Bonifatius Verlag, Paderborn 2003, S.67).
Diese Erwartung tritt so offensichtlich auf, dass wir zu wissen glauben, was wir erwarten. Leider müssen wir jedoch in vielen Situationen erkennen, wie sehr François Mauriac Recht hat, wenn er schreibt: «Ich habe mich immer über den Gegenstand meiner Sehnsucht getäuscht. Wir wissen nicht, was wir ersehnen» (F. Mauriac, Le Nœud de vipères; deutsch: Natterngezücht, Herder Verlag, 2. Auflage Freiburg 1957). Pavese bestätigt dies auf dramatische Weise in seinem Tagebuch. Nachdem er den bekanntesten italienischen Literaturpreis, den Premio Strega erhalten hatte, schreibt er: «Du hast auch das Geschenk der Fruchtbarkeit erhalten. Du bist Herr deiner selbst, deines Schicksals. Du bist berühmt wie jemand, der es nicht zu sein sucht. Und doch wird all das enden. Diese deine tiefe Freude, dieses leidenschaftliche Gefühl der Sättigung besteht aus Dingen, die du nicht berechnet hast. Sie ist dir gegeben. Wem danken, wem, wem? Wem fluchen an dem Tage, da alles entschwinden wird?» (C. Pavese, Das Handwerk des Lebens, op. cit., S.365). Und am Tag der Preisverleihung notiert er: «In Rom Apotheose. Und nun?» (Ibidem, S. 384).
Wie oft haben wir uns selbst mit demselben Gedanken überrascht wie Pavese, nachdem wir, wie er, das erhalten haben, was wir ersehnt hatten: «Und nun?» Warum? Warum kommt uns diese tückische Frage über die Lippen, wenn wir das erhalten haben, was wir uns erträumt hatten? Paradoxerweise wird sich der Mensch gerade im Moment der Enttäuschung der wahren Natur seiner Erwartung bewusst, die sein Wesen ausmacht und ihm das Geheimnis seiner Person offenbart: jenes «ewige Geheimnis unseres Seins», von dem der Dichter Giacomo Leopardi spricht (Pensieri LXVIII). Was ist es, das wir erwarten, und das nichts, nicht einmal der großartigste Erfolg, ersetzen kann?
Auf diese Frage hat wiederum Pavese in seiner Genialität geantwortet, der so aufrichtig seiner eigenen Erfahrung gegenüber war, dass er darüber verwundert war: «Was der Mensch in der Lust sucht, ist ein Unendliches, und niemand würde jemals die Hoffnung aufgeben, diese Unendlichkeit zu erringen» (C. Pavese, Das Handwerk des Lebens, op. cit., S. 205). Nichts ist dazu in der Lage, uns zufriedenzustellen, denn das, was wir in all dem, was uns gefällt, in all unseren Vergnügungen suchen, ist etwas Unendliches. Dies lässt uns unsere Enttäuschung verstehen. In der Tat lässt gerade die Erfahrung der Enttäuschung offensichtlich werden, woraus unser Herz besteht. Wenn ich nicht eine grenzenlose Sehnsucht hätte, würde ich nicht einmal die Erfahrung der Enttäuschung machen.
Wenn dies die Situation des Menschen ist, müssen wir uns eine Frage stellen: Gibt es eine wirkliche Grundlage, von der wir uns erhoffen können, dass unser Durst nach Glück Erfüllung findet? Unsere derzeitige Situation, in der alles vor unseren Augen zusammenzubrechen scheint, lässt diese Frage noch drängender werden. Ist es möglich zu hoffen?
Diese Frage führt uns zum zweiten Punkt.

2. Um hoffen zu können, ist Gnade nötig

«Um zu hoffen, mein Kind, muss man sehr glücklich sein, muss man eine große Gnade erhalten, eine große Gnade empfangen haben», schrieb der französische Dichter Charles Péguy (Ch. Péguy, Das Tor zum Geheimnis der Hoffnung, Johannes Verlag, Einsiedeln 1980, S. 13). Mit dieser Aussage macht sich Péguy zum Gegenspieler jeder Anmaßung. Denn er anerkennt, dass die Möglichkeit der Hoffnung nicht auf etwas beruht, das wir geschaffen haben, sondern auf einer Gnade, das heißt auf etwas Gegebenem, Geschenktem. Diese Gnade macht die Hoffnung vernünftig.
Machen wir ein einfaches Beispiel, das wir die Wahrheit der Aussage von Péguy verstehen. Welche Erfahrung hat jeder gemacht, der die Gnade hatte, in einer normalen familiären Situation aufzuwachsen? Er hat die Erfahrung einer unumstößliche Gewissheit gemacht: «Meine Mutter liebt mich.» Dies stand uns nicht zu; es ist eine Gnade, eine solche Mutter gehabt zu haben. Wer nun eine solche Erfahrung gemacht hat, kann der auch nur einen Moment daran zweifeln, dass seine Mutter ihn einmal nicht mehr lieben wird? Nein! Was auch immer ich tue, ich kann nicht glauben, dass meine Mutter mich nicht mehr lieben wird. Ich müsste mich der gesamten Erfahrung entledigen, die ich gemacht habe. Worauf beruht diese Gewissheit über die Zukunft? Auf der Gewissheit meiner Erfahrung in der Gegenwart.
Mit dieser Erfahrung vor Augen können wir uns auf einfache Weise dem Ansatz von Don Giussani beim Thema Hoffnung nähern, von dem das Buch handelt, das ich heute vorstelle (L. Giussani, Kann man so leben?, Sankt Ulrich Verlag, Augsburg 2007, 2. Teil, S. 131-241).
Was ist diese «große Hoffnung», von der Péguy spricht? Der Glaube an Jesus Christus. Die große Gnade ist die Gewissheit des Glaubens. Laut Don Giussani ist der Glaube die Anerkennung einer Gegenwart, die dem Menschen die Erfahrung einer einzigartigen Entsprechung zu den Erwartungen des Herzens ermöglicht, so dass er anerkennen muss, dass nur das Göttliche deren Ursprung sein kann. Der berühmte russische Regisseur Andrej Tarkovskij lässt eine der Personen in seinem Film Andrej Rubljow sagen: «Du kennst das sicher auch. An manchen Tagen gelingt dir nichts, oder du bist müde, erschöpft, und nichts lindert deine Lage. Da stößt du plötzlich in der Menge auf einen einfachen, menschlichen Blick, und es ist, als hättest du die Kommunion empfangen, und sofort wird alles leichter.» Die Erfahrung dieser Gegenwart, ist die Grundlage der Hoffnung – analog zu derjenigen eines Kindes mit seiner Mutter.
Don Giussani erklärt in seinem Buch, dass die Hoffnung «nichts anderes ist als die Ausweitung der Gewissheit des Glaubens in die Zukunft» (L. Giussani, Kann man so leben?, op. cit., S. 193). Wenn der Glaube darin besteht, eine Gegenwart mit Gewissheit anzuerkennen, die der Erwartung des Herzens entspricht, dann besteht die Hoffnung darin, eine Gewissheit über die Zukunft zu haben, die aus dieser Gegenwart erwächst. Es ist die Ausweitung der Gewissheit in der Gegenwart auf die Zukunft.
Papst Benedikt XVI. spricht zu Beginn seiner Enzyklika Spe Salvi von einer «verlässlichen Hoffnung»: «Erlösung ist uns in der Weise gegeben, dass uns Hoffnung geschenkt wurde, eine verlässliche Hoffnung, von der her wir unsere Gegenwart bewältigen können: Gegenwart, auch mühsame Gegenwart, kann gelebt und angenommen werden, wenn sie auf ein Ziel zuführt und wenn wir dieses Ziels gewiss sein können; wenn dieses Ziel so groß ist, dass es die Anstrengung des Weges rechtfertigt» (n. 1).
Die Hoffnung ist daher der grundlegendste Test dafür, ob unser Glaube eine Erfahrung ist – genauer gesagt eine Erfahrung der Gewissheit, die so real ist, dass wir uns in allem hierauf stützen können –, oder ob er nur eine geistige oder dialektische Kategorie darstellt und somit nicht in der Lage ist, einen wirklichen Angelpunkt zu liefern. Daher sagt Don Giussani mit Nachdruck: «Die große Gnade, aus der die Hoffnung hervorgeht, ist die Gewissheit des Glaubens. Die Gewissheit des Glaubens ist der Same der Gewissheit der Hoffnung (L. Giussani, Kann man so leben?, op. cit., S. 137). Die Hoffnung gründet auf einer Gegenwart: «Eine Gegenwart ist allerdings in dem Maße wirklich Gegenwart, in dem du von ihr Besitz ergreifst. Deshalb ist die Hoffnung die Gewissheit über die Zukunft, welche sich auf einen bereits gegebenen Besitzt stützt» (Ibidem, S. 139), auf eine große Gnade eben.
Die christliche Hoffnung ist daher alles andere als unverünftig. Sie ist keine aus der Luft gegriffene Hoffnung, ohne Grundlage, eine Art von unvernünftigem Optimismus, dem die evidenten Gegebenheiten der Gegenwart entgegenstehen. Im Gegenteil, die Vernünftigkeit der Hoffnung beruht ganz auf einer Erkenntnis, die in der Erfahrung verifiziert wurde. Daher können wir sagen, dass sie sich auf einen bereits gegebenen Besitzt stützt.
Dies ruft uns wiederum die Enzyklika Spe salvi mit analogen Worten in Erinnerung: «Der Glaube ist nicht nur ein persönliches Ausgreifen nach Kommendem, noch ganz und gar Ausständigem; er gibt uns etwas. Er gibt uns schon jetzt etwas von der erwarteten Wirklichkeit, und diese gegenwärtige Wirklichkeit ist es, die uns ein „Beweis“ für das noch nicht zu Sehende wird. Er zieht Zukunft in Gegenwart herein, so dass sie nicht mehr das reine Noch-nicht ist. Dass es diese Zukunft gibt, ändert die Gegenwart; die Gegenwart wird vom Zukünftigen berührt, und so überschreitet sich Kommendes in Jetziges und Jetziges in Kommendes hinein» (n. 7).
Und etwas später wird erneut festgehalten, dass «die Verheißung Christi nicht nur Erwartung, sondern wirkliche Gegenwart ist» (n. 8).
Mit dieser Gegenwart vor Augen kann ich mich, hier und jetzt, ohne Angst mit der ganzen Tragweite meiner Erwartung und meiner tiefsten Sehnsüchte konfrontieren. In der Gemeinschaft mit dieser Gegenwart kann ich es wagen, meine wahren Fragen zu stellen.
Dies führt mich zum letzten Punkt dieses Abends.

3. Die Erfüllung der Sehnsucht

«Werden diese Wünsche erfüllt, ja oder nein? Dies ist die entscheidende Frage. Diese Wünsche entsprechen den Forderungen des Herzens. Sie können nur dann mit Gewissheit verwirklicht werden, […] wenn jemand dem Inhalt des Glaubens vertraut, wenn jemand sich preisgibt. Wenn er sich der Gegenwart anvertraut und überlässt, auf die der Glaube verweist» (L. Giussani, Kann man so leben?, op. cit., S. 143). Ich habe Hoffnung, weil ich mir der Macht der großen Gegenwart, die ich im Glauben anerkenne, ganz gewiss bin, und weil ich weiß, dass das Bedürfnis nach Glück, das mich ausmacht, sich in der Art und Weise verwirklichen wird, die das Geheimnis wählen wird.
Dies bedeutet, dass meine Sehnsucht nur in dem Maße erfüllt wird, in dem ich mich der Gegenwart hingebe, die der Glaube anerkannt hat. Die Bedürfnisse des Herzens sagen, dass es das, wonach sich das Herz sehnt, in der Zukunft geben wird, denn der Mensch ist dazu bestimmt, Glück, Gerechtigkeit und Wahrheit zu erlangen. Doch die Gewissheit, dass dies eintreten wird, kann das Herz nicht selbst hervorbringen. Die Gewissheit, dass dies eintreten wird, kann nur von der Gegenwart kommen, die der Glaube anerkennt: nicht von uns, sondern von Ihm, von der außergewöhnlichen Gegenwart, die der Glaube anerkennt.
Die Dynamik der Hoffnung ist durch eine Sehnsucht gekennzeichnet, die auf Dauer nicht standhalten kann und stets bitter enttäuscht würde, wenn sie der Glaube nicht stützen würde. Denn er gibt ihr das Fundament, da er sich der Macht der großen Gegenwart gewiss ist. Aus dem Bewusstsein, dass die Sehnsucht unseres Herzens nicht von uns selbst, sondern nur von Seiner Gegenwart erfüllt werden kann, erwächst daher die Bitte gegenüber dieser Gegenwart. Unsere Freiheit kommt darin zum Ausdruck, dass sie diese Gegenwart bittet, uns zu vollenden. Der heilige Bernhard hat dies in einer wunderschönen Formulierung zusammengefasst. Er sagt, dass die «vollkommene Sehnsucht» selbst schon die stärkste Form des Flehens gegenüber Gott ist (Sermo I pro dominica I novembris).
Wie antwortet Gott auf dieses Flehen?
Die Form der Antwort auf dieses Flehen ist nicht, wie wir oft meinen, eine Vorstellung von uns, ein Produkt unserer Vorstellungskraft. Im Gegenteil: «Diese Form ist nichts anderes als die große Gegenwart selbst» (L. Giussani, Kann man so leben?, op. cit., S. 146). Wir können das gut anhand der eigenen Erfahrung verstehen: nicht das Geschenk, das eine Person mir macht, ist die Erfüllung dieses Bedürfnisses nach Glück. Was mich glücklich macht, ist die Person selbst, nicht das Geschenk, das sie mir macht! «Die Betrachtung deiner Güter ist für uns gewiss eine süße Erquickung – schreibt Wilhelm von Saint Thierry –, doch ohne deine Gegenwart sättigt sie uns nicht vollständig.»
Hoffen bedeutet daher nicht, «etwas» von Gott zu erhoffen, sondern ihn selbst zu erhoffen. Unser Wesen ist von einer Sehnsucht nach dem Unendlichen gekennzeichnet. Daher ist Gott selbst der einzige, der diese Sehnsucht zu erfüllen vermag.
Der heilige Augustinus bringt dies in den Ennarationes in Psalmos (39, 7-8) gut zum Ausdruck: «Dein Herr und Gott soll deine Hoffnung sein; erhoffe dir nicht etwas Bestimmtes von deinem Herrn und Gott, sondern dein Herr selbst soll deine Hoffnung sein. Viele [...] erhoffen von Gott etwas, das außerhalb von Ihm ist; du aber suche deinen Gott selbst; [...] vergiss die anderen Dinge und erinnere dich an Ihn; lass alles zurück und strebe zu Ihm. [...] Er wird deine Liebe sein.»
Die Form der Antwort auf die Sehnsucht des Menschen ist Christus selbst. Christus ist die einzige Hoffnung auf die Erfüllung unserer Affektivität. Nur Er ist in der Lage, unsere Affektivität wirklich zu erfüllen.
Nichts anderes ist in der Lage, uns wirklich zufriedenzustellen. Die Hoffnung liegt daher in der Erfüllung unserer Zuneigung. Nur Er ist in der Lage, unsere Zuneigung wirklich zu befriedigen und zu erfüllen. Daher brennen alle Menschen von Sehnsucht; doch wie schwer ist es, jemanden zu finden, der sagt: «Meine Seele dürstet nach dir» (Ps 63, 2)!
Christus, die vom Glauben anerkannte Gegenwart, ist die einzige vernünftige Grundlage der Hoffnung. Ohne Ihn hat das Leben des Menschen kein Fundament.
Stattdessen ist es so, wie der heilige Thomas sagt: «Das Leben des Menschen besteht in der Zuneigung, die ihn hauptsächlich trägt, und in der er seine Erfüllung findet» (Thomas von Aquin, Secunda secundae, in Summa Theologiae, q. 179, art. 1). Die Erfüllung liegt in der Zuneigung zu Christus, die Erfüllung ist Christus