Logo Tracce


Editorial
Am Scheideweg
-

Es gibt Momente, da stößt einen die Wirklichkeit besonders heftig vor den Kopf. Man denke an die Unmenschlichkeit im Fall der italienischen Koma-Patientin Eluana Englaro, an den Krieg im Nahen Osten oder an die Krise, die sich in unser Leben frisst. All das scheint uns irgendwie aufrütteln zu wollen. Doch zunächst reagieren wir nur auf diese Ereignisse. Das ist kein schlechtes Zeichen, denn es zeigt, dass unser Herz nicht verkümmert ist. Aber reicht uns das? Reicht es, zu reagieren, um die Wirklichkeit anzupacken, um sich von Ängsten zu befreien, um hoffen zu können? Fordern uns diese „Schicksalsschläge“, die einen fast zwangsläufig ergreifen wie im Fall Eluanas, nicht auch in einem tieferen Sinne heraus?

Um zu verstehen wozu, müssen wir unsere Erfahrung in den Blick nehmen und von dem ausgehen, was um uns geschieht. Das Leben zu verteidigen ist absolut gerecht und unabdingbar. Und es gilt den Kampf um das Lebensrecht mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu führen: auf der Ebene des Rechts, der Kultur, der Medien und der Erziehung. Wenn nötig, muss man auch auf die Straße gehen. Alles ist in Bewegung zu setzen. Doch all dies reicht uns nicht. Das Recht auf Leben zu verteidigen ist richtig, aber es reicht nicht, um zu leben. Auch reicht es nicht den geheimnisvollen – und unendlichen – Wert des Leidens zu bekräftigen, um auch wirklich Leiden auf sich zunehmen. Ebenso wenig genügt die Verteidigung der Familie, um eine Ehe zu führen. Gewiss, wir sollen alles tun, was wir tun können, um den guten Kampf bis zum Ende zu führen. Aber das reicht nicht.

Um zu verstehen, worum es geht, brauchen wir jemanden, der voll und ganz lebt. Jemanden, der uns die Fülle an Sinn zeigt; ein Sinn, der auch noch in der schlimmsten Krankheit Bestand hat. Wir brauchen jemanden, der uns zeigt, wie unendlich schön und faszinierend die Berufung ist, Kinder zu erziehen. Jemanden, der uns in all diesen Umständen eine zuvor undenkbare Entsprechung mit unserem Herzen wahrnehmen und entdecken lässt. Und der uns denjenigen kennen lernen lässt, der all das möglich macht; den Einzigen, der uns das ermöglicht, was sonst unmöglich wäre: Christus.

Was wir brauchen ist Christus. Und wir brauchen Zeugen, durch die Er uns gegenwärtig wird. Wenn wir das erkennen, dann wird das Leben zu einer Herausforderung, zu einem leidenschaftlichen Abenteuer. Es führt uns dann immer mehr in die Bedeutung der Wirklichkeit ein, wie Julián Carrón kürzlich zu Verantwortlichen der Bewegung sagte. Denn das Leben ist eine beständige Herausforderung. Ständig sind wir herausgefordert, Ihn als gegenwärtig zu erkennen und darin unseren Glauben zu bewähren und unsere Hoffnung wachsen zu sehen. Jede Schlacht stellt uns an einen Scheideweg, der noch vor jeder Entscheidung über Sieg oder Niederlage kommt. Dabei lautet die Frage: Sind wir Seiner Gegenwart gewiss oder nicht? Sind wir der guten Bestimmung gewiss, die sich uns gezeigt hat? Sind wir uns dessen gewiss, was wir gesehen haben und was in unser Leben getreten ist? Wenn die Antwort „ja“ lautet, können wir „hoffen gegen jede Hoffnung“.

Fromme Worte? Weltfremder Spiritualismus, der an der harten Wirklichkeit abprallt? Mitnichten! Denn anstatt dich aus dem Staub zu machen, lässt dich diese Gewissheit mit größerem Einsatz, mit ganzem Engagement weiter kämpfen. Sie ermöglicht einen größeren Scharfsinn, einen Blick, der alle Faktoren berücksichtigt und jede Angst nimmt. Gewissheit, das heißt Freiheit! Denn die Hoffnung erwächst einzig aus der Gewissheit, dass Er da ist.