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DIE CARITAS IN VERITATE
Die Kraft der Nächstenliebe
Davide Perillo

Das unauflösliche Band zur Wahrheit, die Verkündigung Christi als „erster und hauptsächlicher Entwicklungsfaktor “, die Subsidiarität und der freie Markt. GIORGIO VITTADINI erläutert die neue Enzyklika von Papst Benedikt XVI. ausgehend von dem, was das soziale Handeln zuallererst ermöglicht: „Die Sehnsucht des Ich“.

Wir haben lang auf sie warten müssen: schon vor gut zwei Jahren sprach man von der Sozialenzyklika Benedikt XVI., die „bald erscheinen sollte“ (Sie hätte zum 40. Jahrestag der Veröffentlichung von Populorum Progressio von Paul VI. herauskommen sollen). Als man dann verschiedene Entwürfe besprach, kam es zur Weltwirtschaftskrise. Daraufhin galt es Korrekturen vorzunehmen, manche Punkte zu vertiefen und noch einmal zu aktualisieren. Am 29. Juni, dem Fest „Peter und Paul“, wurde sie nun unterzeichnet und eine Woche später veröffentlicht. Das Warten hat also ein Ende. Jetzt geht es an die Lektüre. Die Enzyklika ist sehr dicht: in 79 Paragraphen geht es einerseits um die Arbeit, andererseits um die Finanzwelt, um internationale Organisationen und das Thema „Entwicklung“; daneben werden auch Themen wie Technik, Konsum, Umwelt behandelt. „Aber das, was einen zuerst beeindruckt, ist etwas anderes“, so Giorgio Vittadini, der Präsident der Fondazione per la Sussidiarietà: „Und das ist die große Einheit mit der ersten Enzyklika dieses Papstes, Deus caritas est. Wenn man genau hinschaut, dann sprach der Papst auch da schon von der untrennbaren Einheit von Wahrheit und Liebe. Hier schlägt der Papst mit der ersten Zeile dieselbe Richtung ein“.

So als wollte er sagen, dass die soziale Frage und die Beziehung unter den Menschen vor allem eine ontologische Frage ist und nicht eine ethische. Wir könnten sagen: eine Frage der Erkenntnis. Wie würdest Du das sehen?
Der Papst definiert die Liebe als Wahrheit. Damit will er jeder möglichen Reduzierung auf eine moralistische Ebene entgegenwirken. In diesem Sinn stimmt es, dass er sie auf der Ebene der Erkenntnis sieht. Ich muss an ein altes Flugblatt von uns aus den 80er Jahren denken, das aus einer Rede von Johannes Paul II. zitierte: „Die Wahrheit ist die Kraft des Friedens“. Eben, wenn die Liebe auf der Wahrheit gründet, dann heißt das, dass man sie in dem Sinn verwendet, wie die theologischen Tugenden von ihr sprechen: Glaube, Hoffnung und Liebe. Aber das Wort „Liebe“ wird oft verkürzt verstanden.

„Ohne Wahrheit gleitet die Liebe in Sentimentalität ab“, sagt der Papst.
Genau. Hier dagegen spricht man von Liebe als Liebe zur Bestimmung des Menschen. Und man sieht sie im Zusammenhang mit der Ontologie und der Erkenntnis. Meiner Meinung nach ist das sehr wichtig. Auf diese Weise wird in dem Klima der Verwirrung, in dem wir leben – und in dem diese Werte oft von der menschlichen und geschichtlichen Erfahrung losgelöst wurden – alles auf eine Objektivität zurückgeführt.

Und auf eine gewaltige Aussage: „Die Verkündigung Christi ist der erste und wichtigste Faktor in Sachen Entwicklung“.
Weil es Christus ist, der die Bestimmung des Menschen erfüllt. Dieses Thema zieht sich praktisch durch die ganze Enzyklika. Der Papst spricht davon am Anfang, als er Populorum progressio aufgreift und sie noch einmal unverkürzt betrachtet. Denn er zeigt auf, dass Paul VI. die Beziehung zwischen der Verkündigung Christi, der Person und der Gesellschaft ganz klar gesehen hat. Aber er greift darauf auch später zurück, wenn er des Öfteren die Kirche als den Punkt setzt, der am Ende des menschlichen Weges steht, in dem sich alles klärt, alles seine Zweideutigkeit verliert. Das Thema der Liebe in der Wahrheit wird an die Tatsache gebunden, dass diese Wahrheit in der Geschichte in Christus zur Erfüllung gelangt und die Kirche deren Garant ist, gerade weil die Kirche diese Vorstellung von der Wirklichkeit verteidigt. Der Papst spricht von der Soziallehre der Kirche, aber mehr noch unterstreicht er den Aspekt der Verkündigung.

Er spricht auch von der Entwicklung als „Berufung“ und nicht nur als Anhäufung von Gütern. Warum?
Weil auch ihr die Beziehung zu Gott zu Grunde liegt, die Wahrheit und Liebe ist. Alles nimmt hier seinen Anfang. In den Seiten der Enzyklika gibt es einen ständigen Kontrapunkt zu diesem Fundament. Wenn er zum Beispiel am Anfang des fünften Kapitels über die Armut spricht, setzt er sie in Beziehung zur „Einsamkeit“ und zur „Verweigerung der Liebe Gottes“. Es ist als wollte er immer wieder deutlich machen, dass jeder Aspekt der sozialen und ethischen Frage keinen anderen Ursprung haben kann als die Verkündigung. Ein sehr wichtiger Faktor, vor allem wenn wir daran denken, wie das Thema „Evangelisierung und menschlicher Fortschritt“ in den letzten Jahren behandelt worden ist, auch in kirchlichen Kreisen, als wären das zwei Aspekte, die nicht zusammengehören. „Die Liebe reicht nicht aus, es braucht Gerechtigkeit“. Wie oft haben wir das schon gehört? Als hätte das Christentum, um die Wirklichkeit lesen zu können, etwas nötig, was außerhalb der christlichen Verkündigung steht.

Erstaunt Dich nicht die Aktualität von Paul VI.?
Schon. Aber was beeindruckt, ist auch, dass Benedikt XVI. gerade Populorum progressio auf diese Weise liest; diese Enzyklika gehört zu denen, die von der Interpretation her am meisten verbogen wurde. Wenn Humanae vitae, die andere bekannte Enzyklika von Montini als Enge interpretiert wurde, dann wurde Populorum progressio als ein Nachgeben gegenüber der Welt gesehen. Dagegen wird Paul VI. vom Papst in seiner wahren Bedeutung verstanden. Er zeigt dessen Versuch auf, die christliche Erfahrung zum Faktor der Entwicklung zu machen.

Aber wenn Du gestattest, auch die Aktualität der Intuition Don Giussanis aus dem Jahr 1976 ist beeindruckend. „Evangelisierung und menschlicher Fortschritt“ war der Titel eines Kongresses der italienischen Kirche in dem Jahr, der die Trennung dieser beiden Sphären betonte. Don Giussani hätte aus diesem „und“ gerne ein „ist“ gemacht: Die Verkündigung Christi und der Fortschritt des Menschen fallen in eins …
Als ich die Enzyklika las, konnte ich nicht anders, als bei vielen Punkten an das Buch von Don Giussani Das Ich, die Macht und die Werke zu denken. Er setzt auf das Ich: Es ist mit der Sehnsucht nach Wahrheit, Gerechtigkeit und Schönheit begabt, auf dem dann eine soziales Handeln mit sozialem Ausmaß gründet. In der Tat spricht die Enzyklika später ausdrücklich vom „Werk“. Es wird nicht begrenzt auf einen nebensächlichen Aspekt des wirtschaftlichen und sozialen Lebens, als wäre der Dienstleistungsbereich etwas neben dem Liberalismus und Kommunismus. Der Markt muss nach Benedikt XVI. von der Unentgeltlichkeit durchwirkt sein, von Unternehmen, in denen der Profit ein Instrument ist, aber das eigentliche Ziel darüber hinausgeht.

In der Enzyklika heißt es da: „Werke, die vom Geist des Schenkens geprägt sind“ ...
Man spricht also von Werken, die aus der christlichen Erfahrung heraus entstehen, von unternehmerischen Zusammenschlüssen, die mit diesem Ziel entstehen. Hier wird der Markt, aber auch das Wirtschaftsleben selbst, als etwas verstanden, was man nicht den entgegengesetzten Ideologien überlässt, sondern wie ein Instrument für etwas Größeres. „Es geht nicht nur um den dritten Sektor“, sagt er in Paragraph 46, „sondern um eine neue, weite Wirklichkeit, die Privates und Öffentliches gleichermaßen miteinbezieht und die den Profit nicht ausschließt, sondern ihn als Instrument betrachtet, um menschliche und gesellschaftliche Ziele zu verwirklichen“. Und dann: „Es scheint so, als würde die Unterscheidung, die man bisher zwischen den Unternehmen, die sich an Profit orientieren, und den nicht gewinnorientierten Unternehmen vorgenommen hat, nicht mehr fähig sein, der ganzen Wirklichkeit Rechnung zu tragen, und auch nicht auf wirkungsvolle Weise auf die Zukunft hin zu orientieren“. Es scheint, als wollte er hier die Geschichte nicht nur der italienischen, sondern der europäischen Wirtschaft von 1950 bis heute zusammenfassen.

In welchem Sinn?
Wir Katholiken haben über Jahre hinweg einen Minderwertigkeitskomplex gehabt. Vorherrschend war die Vorstellung, dass man an der Gesellschaft mit ihren Gesetzen so, wie sie ist, nichts ändern kann, und dass wir ihr die ethischen Werte geben und uns der Armen annehmen müssen. Und mehr nicht. Nun, der Papst kehrt das Ganze um. Und auch im Hinblick auf die Finanzkrise ist sein Urteil viel tiefgehender als das bestimmter Zeitungskommentatoren. Denn die Wirtschaftskrise wird nicht nur als ein allgemeiner Zusammenbruch verstanden, sondern als Krise des Vertrauens, die damit eine menschliche Krise ist. Das heißt, das eigentliche Thema der Enzyklika ist das Subjekt, das hinter wirtschaftlichen Aktivitäten steht. Es ist das Subjekt, das den Gang der Wirklichkeit bestimmt.

Ist deswegen der zweite rote Faden die Freiheit? Der Begriff kommt 38 Mal vor.
Das Thema zwischen den Zeilen ist die Überwindung von Mechanismen. Wenn wir auf die Debatte schauen, die es nach der Krise in gewissen Zeitungen gab, dann werden dort irgendwelche Strukturen als Auswege aus der Krise vorgeschlagen. Man versucht das System auf einem dem System immanenten Grund wieder aufzubauen. Die Sichtweise, die die Bedeutung des Subjekts hervorhebt, wie dies der Papst tut, ist absolut neu. In der Tat ist das zweite große Wort nicht zufällig das Wort „Subsidiarität“. Benedikt XVI. spricht davon immer wie von einer Methode, die mit der Verantwortung gekoppelt ist: „Die Subsidiarität ist vor allem eine Hilfe für die Person durch die Autonomie der mittleren Gruppen und Verbände.“ Das heißt, es ist das Instrument, das dem Ich erlaubt, sich in den mittleren Gruppen in seiner Individualität zu entwickeln. Und sie fördert „die Freiheit und die Partizipation“ , insofern „sie Übernahme von Verantwortung ist“.

Wie liest Du diese Definition?
Als etwas Dynamisches. Sagen wir, die Subsidiarität ist das Instrument mit dem die vorhandene Möglichkeit zur Tat wird; durch diese Methode wird eine Person, die auf die Bedürfnisse der Gesellschaft zu antworten vermag, dazu befähigt, den Weg bis zum Ende zu gehen. Vom Ich zum Werk. Die Sehnsucht wird zum Werk, es kann zu einer organischen Antwort auf das Bedürfnis kommen. So dient man einer anthropologischen Vorstellung und einer Erfahrung im Vollzug. Ich brauche das, damit sich mein Ich voll und ganz entwickeln kann.

Damit wären wir wieder bei der Vorstellung von Entwicklung als „Berufung“, wie sie am Anfang der Enzyklika beschrieben ist.
Aber das Schöne ist, dass der Papst davon sowohl auf der Ebene des Ichs als auch auf der Ebene der Werke spricht, aber auch auf der Ebene der Globalisierung. Und das ist eine sehr gewagte These, vor allem auf internationalem Terrain. Durch die verschiedenen G8-Gipfel und dergleichen haben wir uns daran gewöhnt, dass die Welt weiter läuft, weil sich die Staatschefs hie und da treffen. Das ist genau das Gegenteil von Subsidiarität. Der Papst versteht auch diese Ebene als eine, wo Subsidiarität gelten muss. Man stelle sich vor, was das für die Europäische Union bedeutet, die vom Etatismus erstickt wird, von nationalen Interessen, von Bürokratie …

Für den Papst gehören Subsidiarität und Solidarität stets zusammen. Warum besteht er so sehr darauf?
Wir müssen dabei berücksichtigen, dass das Wohlfahrtssystem, wie wir es aus Europa kennen, nicht auf der ganzen Welt vorhanden ist. Die angelsächsische Welt zum Beispiel hat da ein ganz anderes Verständnis. Und weil auch in Europa das verlorengegangen ist, was hinter der Wohlfahrt steht, nämlich die Person, ist man dort soweit gekommen, den Staat als Garanten des Wohls der Person anzusehen und das Privatleben als Ausdruck der Handlungsfreiheit zu verteidigen, worunter wiederum die soziale Marktwirtschaft leidet. Wenn die Solidarität betont wird, dann heißt das, dass diese Form der Selbstorganisation eine Form der gesellschaftlichen Protektion ist, eine Form der Selbstverteidigung des Volkes für das Volk, das seine Bedürfnisse am besten kennt, sich organisiert und einfordert, dass es die öffentliche Rolle ausfüllen darf, die ihm zukommt. Man könnte sagen, dass die Subsidiarität Solidarität und Liebe ist; Liebe in dem Sinn, wie es zu Beginn der Enzyklika ausgeführt wird.

Paradoxerweise gibt es in diesem Sinne nichts „Subsidiäreres“ als die Kirche. Sie entsteht und lebt gerade dafür, dass sie dem Ich ermöglicht, die Antwort auf sein Bedürfnis zu finden.
In der Tat gibt es auch einen Paragraphen über die „libertas ecclesiae“ (die Freiheit der Kirche) und die Religionsfreiheit, was eigenartig für eine Sozialenzyklika ist. Denn wenn es kein Subjekt gibt, das die Sicht auf den Menschen als einem einzigartigen und unwiederholbaren Ich vertritt, dass also die Person einen Wert besitzt noch vor ihrem Ausdrucksvermögen, dann kann ich keine Wirklichkeit aufbauen, die subsidiär ist. Im Unterschied zu dem, was ihre Gegner sagen, ist das Ziel der Kirche die Freiheit des Ich. Die christliche Erziehung zum Glauben hat den religiösen Sinn der Person zum Ziel, das heißt ihre Beziehung zum Geheimnis. Da gibt es noch einen anderen interessanten Anknüpfungspunkt in der Enzyklika: Themen wie das Leben, die Umwelt, dann auch die Omnipräsenz der Technik – zu denen es einige interessante Ausführungen gibt – werden immer wieder an einen Punkt zurückgeführt: eine bestimmte Sicht des Menschen. Es ist klar, dass es beim Weg vom Ich zur Subsidiarität vor jedem Werk noch eine Vorstellung davon braucht, was unter diesem Ich zu verstehen ist und einen Ort, der es verteidigt. Davon ausgehend schlägt man wieder eine alte katholische Lehre vor, von der wir in diesen Jahren immer wieder gesprochen haben: die Vorstellung davon, dass es, wo es keine Freiheit der Kirche gibt, auch keine gesellschaftliche Freiheit geben kann.

Ist deshalb auch so oft von „Erziehung“ die Rede?
Sicherlich. Nicht von ungefähr wird die Erziehung unmittelbar nach der Subsidiarität genannt. Wenn es stimmt, dass es vor allem darum geht, die Entwicklung des Ichs zu ermöglichen, dann reicht allein der Wunsch danach nicht aus. Die Erziehung ist entscheidend, denn dieser Wunsch bedarf einer Erziehung. Er wird nicht in erster Linie von einem funktionalen Gesichtspunkt aus erzogen, er wird nicht dadurch erzogen, dass ich sage: „Ich gebe dir die Möglichkeit Schulen und Krankenhäuser zu bauen“. Er wird zum Schönen erzogen, zum Wahren, zur Liebe in der Wahrheit. Er wird dazu erzogen, sich zu öffnen. Romano Guardini fasste dies in die Aussage zusammen: „In der Erfahrung einer großen Liebe wird alles in ihrem Umfeld zu einem Ereignis“. Und Don Giussani hat dies dann aufgegriffen.

Und ohne dies wird alles konfus. „Ohne Gott weiß der Mensch nicht, wohin er gehen soll“, schließt der Heilige Vater.
Aber man könnte ergänzen: ohne den Menschen kann auch Gott nicht wirken. Das ist eine Provokation, die in den konkreten Dingen des Alltags immer gegeben ist.