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Europa/Griechenland
Das (wahre) Bedürfnis der Menschen
Paolo Perego

Ein Gemüsehändler, der vor Sorge die Haare verloren hat. Ärzte ohne Gehalt. Die Kinder, die Ängste, die Zukunft ... Alltägliche Szenen aus einem Land, in dem die Krise nicht nur aus Zahlen und Statistiken besteht, sondern aus Schmerz und Einsamkeit. Und wo es aber auch zu überraschenden Entwicklungen kommt.

Der Markt ist stets überfüllt. Trotz der Krise sind die Stände voll. Die Straßenhändler kommen aus dem Umland. Rosaria geht jeden Tag dorthin. Immer zu denselben Verkäufern, bei denen sie weiß, was sie bekommt: Der eine hat die besten Zucchini, für das Obst geht sie zu einem anderen ... Aber diesmal wirkt einer von ihnen seltsam. Er sieht verändert aus, denn er hat innerhalb einer Woche seine Haare verloren. „Was ist passiert?“ „Nun ja, die Sorgen. Du denkst an deine Zukunft, an die Familie. Und in dir kommt die Angst hoch. Es gibt keine Perspektiven ...“
Larissa Ende April. Ein Tag wie jeder andere, in einer kleinen Stadt mit 120 000 Einwohnern in Thessalien, einer Region im Nordosten Griechenlands an der Straße entlang der Ostküste des Landes zwischen Saloniki und Athen.
Rosaria ist in Neapel geboren. Nicola, einem Griechen, begegnet sie erstmals an der Universität, an der er Medizin und sie Pädagogik studieren. Sie lernen sich kennen, verlieben sich. Er möchte sie heiraten. „Ich habe ein bisschen gebraucht, um das anzunehmen, aber schließlich bin ich ihm nach Griechenland gefolgt.“ Sie sind dreizehn Jahre verheiratet und haben zwei Kinder. Wenn es nötig ist, hilft Rosaria ihrem Mann in der Praxis, sonst kümmert sie sich um die Kinder und das Haus und hilft auch in der Pfarrei. Ihr Tagesablauf besteht aus einfachen Dingen. Sie trifft Menschen, wenn sie die Kinder in die Schule bringt oder einkaufen geht. Wie auch an diesem Morgen auf dem Markt. Und die Krise? „Sie wird immer erdrückender. Man spricht von nichts anderem.“

Gewiss. Nur worüber man mit den Leuten spricht, das sind nicht die 250 Milliarden Staatsschulden, auch nicht die Finanzspekulationen, die Ratingagenturen, die ihrer Pflicht nicht nachkommen, oder die Steuerhinterzieher. Man spricht über zinsverbilligte Darlehen und darüber, dass sie jetzt für die Familie ein Klotz am Bein geworden sind. Man spricht darüber, ob man die Kinder studieren lassen kann, ob das Geld bis zum Monatsende reicht und man noch jeden Tag die Einkäufe erledigen kann, oder über den gerade verlorenen Arbeitsplatz. „Das mittlere Einkommen beträgt etwa 800 Euro im Monat. Und die Mehrwertsteuer wurde von 19 auf 21 Prozent erhöht. Und es scheint so, dass sie noch auf 23 Prozent steigen wird. Vor einem Jahr konnte man Nudeln für 1,60 Euro kaufen. Jetzt kosten sie etwa 2,50 Euro. Und die Sardellen, das Armenessen schlechthin zumindest hier: während sie im letzten Jahr 1,50 Euro kosteten, bezahlt man für das Kilo jetzt fünf bis sechs Euro. Auf dem Markt kam ich früher mit 20 Euro aus. Heute zahle ich, selbst wenn ich nach Angeboten ausschaue, mindestens 40 Euro“.

Schlaflose Nächte. Rosaria sagt, dass es ihrer Familie im Grunde besser geht als anderen, obwohl Nico seit mehr als einem Jahr kein Gehalt bekommt: „Viele Ärzte sind gezwungen, Darlehen aufzunehmen, auch die mit eigener Praxis. Oft passiert es dann, dass die Patienten nicht bezahlen können ...“. Bisweilen packt auch sie zu Hause die Angst, und es kommt zu Streitigkeiten. „Weil ich zum Beispiel für die albanische Frau einkaufe, die mit fünf Kindern und einem arbeitslosen Mann im Wohnblock putzt. ‚Wir schwimmen selbst nicht gerade im Geld‘, wirft mir Nico vor. Aber dann gibt er zu, dass man nicht anders handeln kann ... “
Die Sorgen, Ängste und schlaflosen Nächte sind verständlich. Doch dann geht man am Morgen aus dem Haus und trifft auf die Gesichter der Leute, auf ihr Bedürfnis. „Und dieses Bedürfnis ist nicht nur materiell. Das habe ich mit der Zeit verstanden. Es ist vor allem eine menschliche Krise. Die Wirtschaftskrise ist nur der Tropfen, wenn auch ein großer, der das Fass zum Überlaufen brachte.“ Das griechische Volk, so erzählt sie als „Migrantin“, hat sich daran gewöhnt, mehr auszugeben, als es in der Tasche hat. So geht man oft ins Café, wo der Espresso mindestens drei Euro kostet. Gerne gehen die Leute auch ins Restaurant essen. Und jetzt, da der Gürtel enger geschnallt wird, stellt sich die eigentliche Frage: „Die Menschen entdecken, dass sie allein sind. Von Natur aus sind sie misstrauisch und stolz. Jetzt sind sie allein und sind gezwungen, die Probleme und ihren Tagesablauf anzuschauen, der immer mühseliger wird.“

Gerade hier hat Rosaria etwas entdeckt: „Du kannst nicht allen helfen. Aber du kannst da sein. Das, was sie wirklich brauchen, ist dasselbe, was ich brauche, nämlich einen Ankerpunkt des Trostes in den Stürmen des Lebens. So ging es mir, als ich der Bewegung begegnete. Anders könnte ich es mir nicht erklären, warum so viele zu uns nach Hause kommen und sich uns anvertrauen.“ Die Menschen sind orientierungslos, denn wenn alles um dich herum zusammenbricht, worauf du deine Erwartungen und deine Sicherheiten gesetzt hast, angefangen vom Staat bis hin zur Familie, zum Wohlstand, zur Arbeit ... Sehr viele greifen zu Beruhigungsmitteln. Die Menschen versuchen noch, die Probleme zu verbergen, und das ist typisch für ein gewisses Verhaltensschema in der griechischen Kultur, in der man die schmutzige Wäsche zu Hause wäscht. Aber früher oder später trägt das nicht mehr.“
Rosaria erzählt von Veronika, einer Lehrerin ihres Sohnes. Sie ist Katechetin und ziemlich formal auch im Glaubensverständnis. „Anfangs diskutierten wir oft. Dann hörte ich auf, auf die Unterschiede zu achten und schaute sie an, wie sie war. So entstand eine sehr schöne Beziehung. Vor kurzer Zeit klingelte es abends an der Tür. Es ist Veronika: ‚Du kannst dir nicht vorstellen, wie es mir geht. Ich irre seit einer Stunde in der Stadt herum. Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte. Schließlich bin ich zu dir gekommen: Ich brauche jemanden, mit dem ich reden kann und ich weiß, dass du daraus keinen Klatsch machst.‘ Sie erzählte mir von einigen wichtigen persönlichen Problemen. Hier sieht man: Einsamkeit ist letztlich auch ein Mangel an Freiheit.“

Vor einigen Wochen beschlossen Rosaria und Nico angesichts der Umstände, statt eine kleine Summe auf die Bank zu bringen die Wohnung über der ihren zu kaufen, in der Sophia zur Miete wohnt. Rosaria kennt die Schwierigkeiten der Frau sehr gut. Oft bezahlt sie die Einkäufe nicht, der Mann hat eine unsichere Arbeitsstelle. Eines Tages klopft die Frau an der Tür von Rosaria: „Ich habe gehört, dass ihr die neuen Eigentümer seid, werft mich bitte nicht raus!“ „Aber warum hast du Angst?“ fragte Rosaria. „Sie setzte sich und fing an zu weinen.“ Sie ist in Schwierigkeiten, weil sie seit einiger Zeit ihr Gehalt nicht bekommt. „Ich sagte ihr, dass das nichts macht, und dass sie bezahlen könnte, wenn sie das Geld hätte. Sie umarmte mich. Am Abend kam Nicola zurück: „Bist du verrückt? Wir brauchen die Miete!“ „Aber was würdest du machen, wenn sie nicht zahlen kann? Würdest du sie rausschmeißen?“ Nicola sagt: „Nein ...“ Eigentlich sind sie beide verrückt. Denn wenige Tage später kommt Sophia wieder. Rosaria ist nicht da, sie trifft Nicola an. Sie bringt das Geld für die Miete: „Herr Nico, Sie erhöhen mir doch nicht die Miete?“ „Nein. Und wenn Sie Geld haben, geben Sie es uns.“

„Es ist Jesus“, sagt Rosaria, „der alles verändert und der eine andere Menschlichkeit hervorbringt.“ So wie bei der rumänischen Familie, die ebenfalls Mühe hat, die Woche über die Runden zu kommen und trotzdem sonntags Mittagstische für Menschen vorbereitet, die kein Geld und keine Arbeit haben. Und sie stehen zusammen. „Das sind Blumen. Das Bedürfnis der Menschen ist wie eine Blume. Und die Macht entfernt uns von diesem Bedürfnis, verbirgt diese Blume, die in den Menschen ist. Hingegen bin ich vom Glauben dazu erzogen, jeden Tag aufmerksam zu sein auf diese Blumen, sie zu sehen. Und die Menschen, die so angeschaut werden, bemerken das.“

Einer, der atmen lässt. Das sagt eine Frau, die für sich schon Mühe hatte zu schlafen und die ihre Augen beim Gedanken an jemanden, der in Schwierigkeiten ist, nicht zumachen konnte. „Wo finde ich Frieden? In jemandem, den du anschauen kannst und dem du folgen kannst, was immer geschieht. So schläfst du, ruhst aus, atmest. Auch die Kinder. Du lernst, sie zu erziehen und dich selbst zu erziehen. Bei Tisch zum Beispiel, denn es ist nicht selbstverständlich, dass Nudeln auf dem Teller sind.“

Nichts mehr ist selbstverständlich, von den Nudeln bis zur Schule der Kinder. Elena ist Schuldienerin und etwas über 40. Rosaria fährt gerade mit dem Fahrrad zur Messe und trifft sie. Beide haben ihre Kinder in der gleichen Schule. Elena sieht traurig aus. Ein kleiner Schwatz: „Was hast du?“ „Ich fange an, mein Kind anzuschauen und zu denken, dass ich es später nicht auf die Universität schicken kann. Und du? Machst du dir keine Sorgen?“ „Ich habe genug vom Gerede über die Krise. Ich bekomme keine Luft mehr. Es gibt noch anderes im Leben.“ − „Aber wenn dein Kind eines Tages nicht studieren kann?“ „Elena, ‚eines Tages’ gehört nicht uns. Die Sorgen, das Geld dürfen nicht die Oberhand bekommen.“ Elena schlägt die Augen nieder: „Jetzt wirst du mir sagen, dass to Mysterio (der Herr) das Wichtigste ist ...“ „Sicher, was kann uns sonst retten? Was kann uns tragen?“ „Dann möge to Mysterio uns die Gnade geben, dass ich dich jeden Tag sehe“, antwortet ihr Elena.

Mittagessen zu vierzehnt. Es ist wirklich etwas, das man sieht und das dich und die anderen verändert. „Wie bei unseren Nachbarn, die getrennt im Haus wohnen. Frau Agnes war Ende April nach dem zigsten Streit in Tränen aufgelöst zu mir gekommen: ‚Ich gehe zurück in mein Dorf. Ich kann nicht mehr’.“ Inzwischen hatten Rosaria und Nicola beschlossen, den ersten Mai ruhig zu verbringen und niemanden einzuladen. Sie wollten allein sein. Aber da läutet das Telefon, es ist der Pfarrer, der allein zu Hause ist. „Kommen Sie zu uns.“ Dann kommt ein weiterer Anruf. Es sind die albanischen Freunde. Am Ende des Mittagessens sind sie zu vierzehnt. Agnes Mann sieht sie auf dem Balkon grillen. Er klingelt an der Tür. „Darf ich? Ich bin allein geblieben.“ Rosaria und Nico bitten ihn herein. Einige Bemerkungen und es entsteht eine Debatte: „Ihr verteidigt meine Frau“. „Nein. Wir haben sie gern. Und wir haben dich gern.“ Gerührt setzt sich der Mann an den Tisch. Mit dem Pfarrer, mit den Albanern, den Griechen und den Rumänen. Und wir, Nico und ich, wollten eigentlich allein bleiben. Aber es ist Gott, der sät. Auch in Krisenzeiten. Ich sehe und genieße nur die Früchte.“


In Zahlen
250 Milliarden Euro betragen die griechischen Staatsschulden

Die Schulden betragen 150 Prozent des griechischen Bruttoinlandsprodukts.

Das wirkliche Defizit des Landes beträgt 12,7 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts, gegenüber den erklärten 6 Prozent. Die alte Regierung hatte der EU eine Höchstgrenze von 3,7 Prozent versprochen.

Insgesamt erhält Griechenland rund 110 Milliarden Euro an internationaler Hilfe. 30 Milliarden zahlt der Internationale Währungsfonds.