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Aktualität - In Zeiten der Krise
Europa - das Ende eines Traums?
Davide Perillo

Steht der alte Kontinent angesichts der horrenden Verschuldung Griechenlands und der Finanzkrise, die andere Staaten mitzureißen droht, vor dem Aus? Ist es nur ein vorübergehender Sturm oder ein Vorbote des Verfalls? Wir haben dies den Politologen und Direktor des Bonner Zentrums für Europäische Integrationsforschung, LUDGER KÜHNHARDT, gefragt.

Am Anfang stand ein Trick. Über Jahre wurde der Haushalt Griechenlands nachgebessert, trotz aller europäischen Pakte. Ermöglicht wurde das Vorgehen durch die fehlende Kontrolle. Als dann die Welle der Finanzkrise anrollte und Griechenland an den Rand des Bankrotts brachte, ahnten die wenigsten, dass sie auch andere Länder mit in den Abgrund zu reißen drohte. Spekulanten griffen den Euro an. Andere Risikoländer warf man in denselben Topf wie die Griechen und sprach kurzerhand von den Pigs (Portugal, Irland, Spanien). Schließlich verabschiedete Europa über Nacht ein 750-Milliarden Rettungspaket. Und die Entwicklung ist weiterhin unwägbar. Die Krise bleibt auf den Fersen. Die Auswirkungen sind auch in Italien mit einem 24 Millionen geplanten Finanzmanöver zu spüren. Es sind nicht nur Fachleute, die sich fragen, was bei dieser Maschinerie namens EU nicht funktioniert. Spuren hat mit Ludger Kühnhardt gesprochen. Der Politologe, Volkswirt und Direktor des Bonner Zentrums für Europäische Integrationsforschung und Gastdozent an der Hochschule für Internationale Beziehungen der Katholischen Universität Mailand befasst sich hiermit seit Jahrzehnten.

Herr Kühnhardt, ist dies eine Euro-Krise oder eine Europakrise? Genügen technische Begründungen oder die spekulativen Angriffe, um die aktuelle Situation zu erklären?

Nein. Die Krise sitzt tiefer. Sie ist das Ergebnis einer wirtschaftlichen Integration ohne politische Integration. In den letzten 50 bis 60 Jahren haben wir die europäischen Einrichtungen, jedoch nicht die Europäer ins Leben gerufen. Wir haben eine gemeinsame Währung, ohne ein wirklich effektives politisches System. Man darf einen anderen Aspekt nicht vergessen.

Welchen?

Die Solidarität zwischen europäischen Ländern ist kein Einwegsystem. Gewiss, die anderen Länder müssen einem Krisenland helfen. Allerdings ist die Achtung gemeinsamer Regeln auch eine Form der Solidarität. Griechenland − aber auch die Mehrheit der übrigen Euroländer, einschließlich Deutschland und Italien im letzten Jahrzehnt −hat dies nicht getan. Die Solidarität hat in Europa nicht funktioniert.

Sprechen Sie von den Verletzungen des Stabilitätspakts und den Maastrichter Konvergenzkriterien?

Genau. Der europäische Pakt gilt nicht nur für Sommermonate, sondern das ganze Jahr, auch in den schlechten Zeiten. Die Regierung Schröder und Chirac verletzten als Erste 2002 diese Kriterien. Sie haben den Weg eröffnet. Heute zahlen wir die Zeche. Deswegen muss man zu einem starken und klaren Abkommen mit transparenten Regeln zurückkommen. Das ist die Grundlage eines wirklich solidarischen Systems.

Kurz: Solidarität verlangt die Einhaltung von Regeln. Es geht also um mehr als technische Einschätzungen von Eurobürokraten …

Die Grundlage des ganzen europäischen Systems ist Vertrauen in Einrichtungen und Regeln. Heutzutage existiert dieses Vertrauen nicht mehr. Um Ihnen nur ein Beispiel zu nennen, in Deutschland herrscht ein Klima der Abneigung gegen Europa, die europäische Integration und sogar gegen den Euro: die Mehrheit der Deutschen möchte zur Mark zurück. Dahinter stehen eine falsche Grundeinstellung und viel Leichtfertigkeit. Aber diese Abneigung ist die Folge fehlenden Vertrauens in das Verhalten anderer Länder.

Aber war es nicht von vorneherein zu kurz gefasst, alles auf Zahlen und Regeln zu gründen? Im Laufe der Zeit ist die gemeinsame Idee verloren gegangen, aus der die Regeln entstanden sind. Was blieb, waren die Verpflichtungen, die man schließlich umging. So verloren auch die Menschen das Vertrauen.

Regeln sind nicht abstrakt. Sie müssen mit den Einrichtungen in Verbindung stehen, die sich mit ihrer Entwicklung, Verbesserung und Anwendung befassen. Kurz es geht um ein Regierungssystem und wirkliche Regierbarkeit. In diesem Punkt liegen wir noch zurück.

Braucht aber ein Regierungssystem nicht auch Ideale, Fundamente? Ist es nicht auch die Krise eines seelenlosen Europas?

Die Seele Europas zu entdecken, kann aber nicht bedeuten, dass man alles akzeptiert, was die Griechen tun, nur weil sie die Erben von Sokrates sind. Die Seele bedeutet, gemeinsame Werte, Prinzipien und Regeln zu akzeptieren. Vor zehn Jahren war ich sehr kritisch gegenüber Chirac und Schröder eingestellt. Heute ist es das Gleiche: die Länder, die weit über ihre Verhältnisse leben, zerstören die Seele Europas. Denn sie legen ein egoistisches Verhalten an den Tag, das das Vertrauen der Menschen zerstört. Die Seele ist nur dann gesund, wenn das Blut durch den ganzen Körper zirkuliert, und nicht nur in eine Richtung.

In jedem Fall stehen wir vor einer tiefgreifenden Krise. Ist das Fehlen eines gemeinsamen Projekts auf die Verleugnung der christlichen Wurzeln zurückzuführen? Denn hieraus geht auch die Idee der Solidarität hervor. Dieser Zusammenhang ist aber gekappt worden …

Ja und Nein. Es stimmt, vielleicht haben wir die christlichen Wurzel vergessen: der Liebes-, Solidaritäts- und Gerechtigkeitsbegriff, sie kommen aus dem Christentum. Aber wir haben auch das aufklärerische self-interest, das Selbstinteresse, die Selbstachtung im positiven Sinne vergessen, dass Bewusstsein, dass, wenn wir in einer Gemeinschaft leben, alle die Folgen akzeptieren müssen. Es gibt die Gemeinschaftsidee, aber sie ist sehr beschränkt, weil Geld nicht alles ist. In diesem Sinne glaube ich, dass Europa die Wichtigkeit einer Wertegemeinschaft vergessen hat. Die Berufung darauf ist zur Rhetorik geworden. So besteht nun die Gefahr einer Rückkehr nationalistischer Gefühle, die Vorstellung, dass dein Staat dich vor den starken Winden der Globalisierung schützen kann. Das ist aber eine Illusion. Wir haben es auch diese Tage erlebt. Wir brauchen europäische Lösungen. Nicht nur, um Griechenland zu retten, sondern um uns alle zu retten.

Wie kann man dieses Vertrauen zurückgewinnen?

Mit ernsthaften Anstrengungen zur Integration. Und mit Transparenz. Die wichtigste Erkenntnis ist, dass wir ohne europäische Mechanismen nicht leben können. Den Leuten ist nicht klar, warum dies so ist. Die Leute, die in Brüssel zusammentreten, regieren uns tatsächlich. Aber die Öffentlichkeit hat nicht das Empfinden, dass es um eine wirkliche Regierung geht.

Dennoch sehen viele Menschen in der Krise ein Verfallssymptom Europas. Sie verweisen darauf, dass der Schwerpunkt der globalen Wirtschaft sich nach anderswohin verschiebt.

Die Menschen fürchten den Verfall, weil sie sehen, dass andere Länder – China, Indien, Brasilien − wachsen. Wir haben das Gefühl, dass die unvermeidliche Folge davon ein Nullsummenspiel ist: Wenn die Chinesen verdienen, müssen wir zwangsläufig verlieren. Das ist aber eine zu einfache Beziehung. Es gibt Aspekte, bei denen wir verlieren. Das ist unvermeidlich, beispielweise in der Industrieproduktion. Aber in anderen Bereichen nicht. Wir können gewinnen, wenn wir in die Entwicklung der Kommunikations- und Dienstleistungsbereiche investieren, oder in die neuen Technologien, die Mehrwerte produziert. Ich denke an das Gesundheits- und Bildungswesen, an städtische Infrastruktur: Diese Probleme stellen sich in aller Welt. Das Potenzial von Europa ist enorm, besonders in einem anderen Bereich …

In welchem?

Wir können helfen, die Grundlagen für ein menschlicheres Zusammenleben zu definieren. Länder wie China und Indien entwickeln sich nicht nur rapide, sie haben auch gravierende Probleme. Dies fordert uns dazu heraus, die Entwicklungsidee selbst zu überdenken. Welche Voraussetzungen begünstigen eine menschlichere Entwicklung? Genügt ein schwindelerregendes Wachstum des Bruttoinlandsproduktes? Gerade dazu hat Europa viel zu sagen. Und mit der restlichen Welt zu teilen

Europa kann aber umso mehr sagen, je tiefer es aus dem eigenen kulturellen Erbe schöpft.

Richtig, die kulturellen und religiösen Wurzeln − aber auch politische. In allen diesen Aspekten, ist Europa mehr als ein Kontinent im Verfall. Allerdings muss er sich seiner Schätze bewusst werden, was aber nicht immer der Fall ist.

Auch der Blick der USA auf uns verändert sich allmählich. Sie wenden sich nach Osten und Süden, knüpfen neue Beziehungen zu Schwellenländern. Wie beeinflusst dies das Selbstverständnis von Europa?

Das ist in vielerlei Hinsicht normal. Obama ist der erste „pazifische“ Präsident: Er ist auf Hawaii geboren und aufgewachsen, für ihn ist der Pazifik näher als Europa. Aber seitdem er Präsident ist, war er mehrmals in Europa. Die Vereinigten Staaten sind eine Weltmacht. Und sie sind es auch aufgrund ihrer globalen kulturellen Anziehungskraft: der American Dream, der amerikanische Traum zieht noch viele Leute in der ganzen Welt an. Der European Dream existiert hingegen nicht. Wir müssen zwei Dinge tun: Das Solidaritätsgefühl in der EU wiederbeleben und gleichzeitig sollten wir uns der Globalisierung wirklich öffnen. Europas Bestimmung ist es, Teil der Welt zu werden und keine geschützte Festung, die Angst vor Rissen hat.

Welche Szenarien können Sie sich kurzfristig vorstellen? Was wird aus dem Euro?

Auf realwirtschaftlicher Grundlage müssten wir fast eine Gleichheit zwischen Euro und Dollar haben. Aber der Abfall des Euro ist nicht so schlimm. Wir lebten vor zehn Jahren lange mit einem Euro, der wenig als ein Dollar wert war. Danach stieg er auf über 1,5, was wiederum dem europäischen Export nicht gut tat. Heute kehren wir zum Gleichgewicht zurück. Es ist nicht das Ende des Euro: Es sind normale Wellenbewegungen. Was aber nicht normal ist, ist die Verschuldung der Mitgliedstaaten. Wir müssen alle dagegen anarbeiten und die europäische Regierung stärken.

Und die Pigs?

Es hängt von ihren politischen Maßnahmen ab. Vor zwei oder drei Jahren stand auch Litauen vor dem Zusammenbruch. Mit einem strengen Sparplan hat das Land aufgeholt. Irland steht auf dem gleichen Weg. Dasselbe ist auch für Portugal und Spanien und Italien möglich.