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Petersplatz - Regina Coeli am 16. Mai
Das Volk, Petrus und ich
Alessandra Stoppa

Am 16. Mai kamen rund 200 000 Menschen zusammen, um auf dem Petersplatz das Regina coeli mit Papst Benedikt XVI. zu beten. Viele waren etliche Stunden im Zug, Auto oder Bus unterwegs, um diese wenigen Minuten mitzuerleben. Trotz der großen Menge verhielten sich die Pilger geradezu schweigsam. Ein Bericht über diesen Tag und über jene, die sich auf dem Petersplatz einfanden.

Gerade stand der Zug still und nahm wieder etwas Fahrt auf, da hält er erneut unter lautem Quietschen. Irgendwo − ringsum sind nichts als Felder. Die Fahrt dauert bereits gute zehn Stunden. Eigentlich müsste man längst zu Hause sein. Das Licht im Abteil fällt aus. Jemand sitzt am Fenster und schaut hinaus auf die dunkle Landschaft. Er betrachtet die Sterne am Himmel und teilt es den anderen mit, die halb eingeschlafen und hungrig versuchen, die Zeit totzuschlagen. Mit einem Schlag denken alle an das Gleiche: „Beobachtet öfter die Sterne … blickt auf die Sterne ... Dann wird eure Seele Ruhe finden“.

Diese Worte wiederholen sie, soweit sie sich noch daran erinnern können. Es fällt ihnen vielleicht noch die Hälfte davon ein. Aber die Intensität dieser Worte, die sie vor ein paar Stunden auf dem Petersplatz gehört haben, ist unvermindert. So verschafft ihnen der Himmel über diesem trostlosen Flecken irgendwo zwischen Voghera und Pavia Unterhaltung. Sogar die schon unerträglich gewordene Zugfahrt wächst ihnen auf einmal ans Herz, da sie nun die die Möglichkeit haben, die Sterne zu sehen.

Eine völlig neue Perspektive. Du bist auf dem Rückweg vom Regina coeli mit dem Papst. Es ist Monate her, dass einem jene entwaffnende Bitte des Papstes an seinem ersten Tag des Pontifikates wieder in den Sinn kam: „Betet für mich, dass ich den Herrn immer mehr lieben lerne. ... Betet für mich, dass ich nicht furchtsam vor den Wölfen fliehe.“ Die Wölfe. Die Sünde seiner Söhne und die Angriffe aus der Öffentlichkeit. All das wurde in letzter Zeit schonungslos ans Tageslicht gebracht. Es ist präsent in den Zeitungen, jeder hat es im Kopf. So beschlossen die katholischen Bewegungen und die Laienvereinigungen sich genau am 16. Mai 2010 zu versammeln, und dieses Gebet des Papstes auch zu ihrem zu machen. Sie organisierten Züge, Reisebusse und Mitfahrgelegenheiten. Anderweitige Termine wurden verschoben, auch Taufen. Man fragte nach dem „Wieso“ und dem „Warum“, diskutierte zu Hause, überdachte alles und traf dann eine Entscheidung. All das in Anbetracht der Worte von Don Julián Carrón: „Wir wollen Gott darum bitten, dass die Bindung an den Papst als ein in der Geschichte fortdauerndes Faktum immer siegen möge. Denn nur so verlieren wir uns nicht und verfallen nicht der Verwirrung. Wir gehen nicht nach Rom, um ihn zu unterstützen, sondern weil wir ihn brauchen.“ Entweder bleibt dies ein abstrakter Slogan oder er wird zu einer völlig neuen Perspektive, mit der du losläufst, um dir deinen Platz im Zug zu reservieren.

Für 19 Minuten mit Benedikt XVI. fährst du innerhalb von 24 Stunden hin und zurück, und bist davon achtzehn Stunden unterwegs. Den anderen 200 000 ergeht es ähnlich wie dir, auch wenn Umstände und Zeiten verschieden sein mögen. Einige sind schon seit zwei Tagen in Rom, andere brechen am Vortag oder erst im Morgengrauen mit dem Reisebus von der Basilikata, aus Deutschland oder dem Trentino auf. Am Ende stehen sie alle vor jenem Fenster. Und es ist genauso, wie man es sich vorgestellt hat: Ein Meer von Köpfen, die trotz bewölktem Himmel geblendet sind vom weißen Travertin der Kolonnaden des Bernini. Spruchbänder und Luftballons überragen die Menge. Die Vorsichtigen haben Regenumhänge dabei, die Optimisten sind im ärmellosen T-Shirt da. Du fühltest Dich im Vorfeld an eine Generalmobilmachung erinnert, aber es ist ein Heer mit schwachen Muskeln und Gelenken. Alle schauen sich um, weil sie, ohne dass sie es sich eingestehen würden, besser verstehen wollen, weshalb sie eigentlich da sind. Ein Beben liegt in der Luft. Freunde suchen sich, aber es ist schwierig, sich durch das Dickicht von Rucksäcken und Menschen quer über den Platz hindurchzudrängen. Die ganz Wagemutigen trauen es sich zu, andere beschränken sich darauf, über Handy miteinander zu sprechen, sozusagen von einem Spruchband zum anderen.
Jeder ist vertreten, der weißhaarige Greis genauso wie der Säugling. Claudio, bestens ausgestattet, richtet das Mittagessen für seine Kinder her und läuft in die nächste Bar, um es aufwärmen zu lassen. Eine Mutter stillt ihr Kind. Man wartet. Mit einem Auge schaut man auf die Uhr, mit dem anderen auf das Fenster. „… die heilige Unruhe Christi .., dem es nicht gleichgültig ist, dass so viele Menschen in der Wüste leben. Und es gibt vielerlei Arten von Wüsten.“ Auf dem Platz des heiligen Petrus wird die Predigt Benedikt XVI. zu seiner Amtseinführung an jenem 24. April 2005 vorgelesen. Im diffusen Morgenlicht sieht man die Spruchbänder, die, an die Kolonnaden angelehnt, den ganzen Platz umschließen: „Habt keine Angst, Christus hat das Böse besiegt.“ Auch du hast keine Angst, denn während du dort stehst, beginnen beinahe unbekannte Leute den Rosenkranz für die Genesung ihrer Freundin zu beten, die plötzlich allen zur Freundin wird. „Beten wir füreinander“, tönt es aus dem Lautsprecher, „dass der Herr uns trägt und dass wir durch ihn einander zu tragen lernen.“
Sofia kennt die Studenten, die mit ihr hier sind, erst seit einem Jahr. Sie fühlt sich nicht ganz wohl auf diesem Platz. Je mehr sie darüber nachdenkt, desto weniger wird ihr klar, ob sie hier richtig ist. Dann beginnt die ganze Menge ein Lied zu singen: Non nobis Domine… „Ich fing an mitzusingen und irgendwie wurde ich dadurch innerlich berührt“, sagt sie. „Ich war gleichzeitig verblüfft und glücklich, so den Heiligen Vater herbeizurufen.“ Nach weiteren Gesängen und Lesungen wird das Evangelium verkündet. Kardinal Angelo Bagnasco liest die Frage Christi an Petrus: „Liebst Du mich?“ Alle warten auf den Papst. Das Fenster wird geöffnet. Er ist es! Tosender Applaus brandet auf und ebbt ab zur Stille. Mit einem Augenblick ist alles anders. Der Platz ist ein anderer, als er vorher war.
„Nicht ein Gedanke, ein religiöses Gefühl“, schreibt Don Giussani. „Ein Ereignis, etwas, was vorher nicht da war und an einem bestimmten Punkt da ist.“ Ein ganz kleiner Punkt auf dieser riesigen Fassade des Vatikans. Er spricht bereits und erklärt das Hochfest der Himmelfahrt Christi: „Der Herr lenkt den Blick der Apostel – unseren Blick – zum Himmel hinauf, um zu zeigen, wie der Weg des Guten im Laufe unseres Lebens hier auf Erden zu gehen ist.“ Der Himmel auf Erden. Du schaust auf diesen kleinen weißen Punkt und weißt, dass es wahr ist. Mit einem Schlag wird es dir offensichtlich. Nur dadurch ist es möglich, dass 200 000 Menschen wie gebannt in Stille verharren. Es ist die Methode Gottes. „Ist dir das klar? Alles steht und fällt mit diesem winzigen Punkt dort, mit diesem Nichts“, hilft dir ein Freund zu verstehen. Währenddessen verweist der Papst beharrlich auf den Himmel: Wenn etwas eure Seele bedrückt, dann blickt auf die Sterne.“
Du weißt nicht, dass es die Worte des russischen Theologen und Universalgelehrten Pavel Florenskij sind. Du weißt auch nicht, dass er sie in einem Brief aus dem Gulag geschrieben hat. Aber du weißt, dass du nicht auf dich schauen, sondern den Blick aufrichten sollst. So wie es jetzt alle machen, damit sie ihn sehen können. Er belebt dieses vor Gewohnheit ganz müde gewordene Heer, weil er gerührt ist. Mehrmals sagt er „Danke“. „Ich danke euch von Herzen. Danke!“ Er umarmt uns vom Fenster aus. Länger als gewöhnlich verharrt er dort. Das „Protokoll“ ist zu Ende, aber er bleibt.

DAS LEBEN FLIEGT DAVON. Eine Freundin, weit weg im Krankenhaus, hört die Worte über ein Handy, das über die Köpfe aller Menschen gehalten wird: „Die Prüfungen, die der Herr zulässt, mögen uns zu einer größeren Radikalität und Konsequenz drängen.“ Und noch einmal dankt er allen. Innerhalb weniger Minuten ruft Benedikt XVI. sein Volk zurück, bringt es auf den rechten Weg. Er erinnert alle daran, „wer der wahre Feind ist, den es zu fürchten und zu bekämpfen gilt“: Die Sünde. „Wir leben in der Welt – sagt der Herr –, doch wir sind nicht von der Welt (vgl. Joh 17, 14). Wir Christen haben keine Angst vor der Welt. Wir müssen die Sünde fürchten und dabei stark in Gott verwurzelt sein.“ Er bittet jeden: „Setzen wir gemeinsam diesen Weg vertrauensvoll fort.“ Er grüßt alle Ausländer und dann, „mit großer Dankbarkeit und Freude“, alle Pilger, sein Volk. „Lasst uns zusammen mit dem Herrn in seiner Gnade vorangehen.“ Dann verschwindet er hinter dem Fenster und alles ist schon vorüber. „Das Leben fliegt davon, wie ein Traum und oft kannst du den Moment seiner Fülle nicht aufnehmen.“ Sein geistliches Testament, das vom Himmel erzählt, schreibt Florenskij in Gefangenschaft, von den Solovki-Inseln wenige Monate vor seinem Tod. Um zu sagen, was es heißt, wirklich zu leben: „Jeden Augenblick mit einem wesentlichen Inhalt füllen“. Und heute ist es wie am ersten Tag des Pontifikats von Benedikt XVI. Derselbe Inhalt, den die Zeit nicht abnutzt, sondern wahrer macht. Hoffen wider jede Hoffnung: „Wer glaubt, ist nie allein – im Leben nicht und auch im Sterben nicht. Die Kirche lebt – sie lebt, weil Christus lebt, weil er wirklich auferstanden ist. Dazu sind wir da, den Menschen Gott zu zeigen. Und erst wo Gott gesehen wird, beginnt das Leben richtig“. Das waren seine Worte, vor fünf Jahren. Heute ist der Platz mit seiner Dankbarkeit erfüllt und diese kommt vor allen Textinhalten. Seine Rührung ist der erste Inhalt. Sein Blick auf die Menschenmasse unter ihm.

VON DER GNADE GEKÜSST. Im Schatten einer Säule sitzt Alessandro. Er ist an den Rollstuhl gefesselt. Seine Mutter hat ihn bis hierher gebracht und ihn in eine warme Decke gehüllt. Sie hat ihn unter diesen Blick gestellt und denkt an jenen Mittwoch, als sie ihn zu einer Audienz gebracht hatte: „Ich habe es geschafft, dass der Papst ihn geküsst hat. Das ist alles“, meint sie stolz. Von seiner Gnade geküsst.
Es wird auch ihn überrascht haben, den Nachfolger Petrus, als er von oben auf uns herabsah. So klein: in der Perspektive des Platzes und in der Treue an Gott. „Das ist schon sehr überraschend − so schreibt der französische Dichter Charles Péguy über die Hoffnung −, dass diese armen Kinder sehen, wie die Dinge vor sich gehen, und denken, dass morgen früh alles besser wird. Dass sie sehen, wie die Dinge heute vor sich gehen, und glauben, dass morgen alles besser wird. Ich selbst bin darüber überrascht. Das ist meine Gnade und die Kraft meiner Gnade, weil diese kleine Hoffnung, die durch den kleinsten Hauch der Sünde schwankt, durch alle Winde zittert, jeden noch so kleinen Hauch fürchtet, doch so unveränderlich, so treu, so aufrecht und klar bleibt; sie ist unbesiegbar, unzerstörbar und es ist unmöglich sie auszulöschen. Eine flackernde Flamme hat die Tiefe der Nacht durchquert.“ Durch das Dunkel der Geschichte und durch die Geschichte jeder Person auf diesem Platz. „Ich habe Gerechtigkeit erfahren.“ Das sind die Worte von Chiara, die sie mit einer Umarmung mitteilt, bevor sie den Petersplatz verlässt, der immer leerer wird. Es ist ein ewiger Platz. Er bringt dich zum Zentrum zurück, egal wo du dich befindest: Die Kirche. „Das ist der Ort auf der Welt, wo alles neu wird … Das, was überall Zwang ist, ist hier nichts anderes als ein Verlassen … Das, was überall Verhaltensregel ist, ist hier nichts anderes als Trost und Freude … Das, was überall Unordnung ist, ist hier nichts anderes als der Tag eines schönen Abenteuers“, so Péguy. Nachdem die Rucksäcke aufgeladen sind, verliert sich der Menschenfluss außerhalb der Säulenreihe.

VITTORIO UND CARAVAGGIO. Nur kurz Zeit für ein belegtes Brötchen am Straßenrand, denn der Zug fährt sofort zurück. Anstelle eines Ausflugs ins Zentrum Roms oder einer Besichtigung des Petersdoms. Vittorio nutzt die Möglichkeit, um mit einem Freund zur Kirche San Luigi dei Francesi zu gehen, um sich Caravaggio anzuschauen. Die Berufung des heiligen Matthäus. Und erstmals versteht er die Bildunterschrift: zwischen dem, der das Werk anschaut, und Christus befindet sich Petrus. „Der heilige Petrus, Widerschein Christi: er wiederholt mit seinem Finger seine eigene Geste“, erzählt Vittorio: „Und um Jesus wahrhaftig sehen zu können, erreichen wir ihn durch Petrus.“ Er ist es, der uns den Glauben versichert. Das sagen uns auch die Gräber unter der vatikanischen Basilika: Maria geht sie sich anschauen, bevor sie Rom verlässt, und findet sich dort mit einer aufgewühlten Seele wieder. Das Geheimnis Gottes hat sie so erreicht. Durch diese Reihe von Männern und Heiligen, die, einer nach dem anderen, die Kirche geleitet haben. „Lass einen von ihnen aus“, denkt sie, „und es wäre nicht bis zu mir gelangt.“ Aber es kommt an. Heute wieder einmal. Mit dieser freudigen Verantwortung, mit der man sich betraut fühlt: „Lasst uns voran gehen im Herrn, mit Seiner Gnade!“ Der lange 16. Mai ist zu Ende, aber die Rückfahrt fühlt sich an wie eine Hinfahrt, schreibt Noemi einem Freund: „Ich bin nach Rom gekommen und habe nichts vollbracht. Ich habe alles noch mal neu angefangen.“

Giusi, Matera

Ich bin voller Dankbarkeit losgefahren, weil das größte Werk, das ich in meinem Leben erfahren habe, das Ja von einigen Menschen ist. Wo wäre ich jetzt, ohne das Ja der Gottesmutter, von Don Giussani, von Petrus und vom Papst? Was wäre aus meinem Leben geworden? Wie oft hat mich Christus zu mir selbst zurückgebracht, durch die Herausforderung des Papstes und derer, die sie annehmen. Auf diesem Platz konnte man Seine Gnade mit der Hand anfassen, unter dem Blick des Papstes. Ich hatte ein unbeschreibliches Bedürfnis nach Stille. Ich habe durch sie alles vermehrt gesehen: die Dankbarkeit, die Freude, die Rührung, die Leidenschaft gegenüber allen, gegenüber mir. In Stille, auf diesem Platz, habe ich mein Ja ausgesprochen. Was gibt es noch Begehrenswerteres, als sich so anziehen zu lassen?