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Briefe
Briefe Juni 2010
Zusammengestellt von Paola Bergamini

"Was wünscht du dir jetzt vom Leben?"

Lieber Don Carrón. Vor einigen Monaten war ich am Morgen nach einer anstrengenden Nacht im Kreißsaal gerade noch bei der Arbeit im Krankenhaus und wollte so schnell wie möglich nach Hause gehen. Da kam eine Krankenschwester, um mir zu sagen, dass unter den Patientinnen, die gerade auf die Abtreibung warteten, eine sei, die sehr nervös und besorgt schien. Ihrer Meinung nach sei es sinnvoll, dass ich mit ihr rede. Also unterbrach ich widerwillig, was ich gerade noch vor dem Heimgehen tun wollte. Es handelte sich um ein junges Mädchen, das einen sehr verängstigten Eindruck machte. Auch vor der Betäubung hatte sie große Angst. Sie hat mir tausend Fragen gestellt. Ich wollte dieses „technische“ Gespräch nach einigen Minuten verkürzen und so sagte ich: „Also schau, vermutlich ist es in diesem Operationssaal weniger gefährlich, als wenn du über eine Straße gehst. Aber ich denke, dass dies nicht das Problem ist …Was wünscht du dir von deinem Leben? Was erhoffst du dir jetzt? Schau, ich rede nicht von deinem Kind, sondern von dir.“ In diesem Moment nahm das Gespräch eine deutliche Wendung. Sie hat von sich erzählt und von dem, was sie sich vom Leben wünsche, von ihrer Familie und von ihrem Verlobten. Am Ende bat sie mich, ihr das Kind auf dem Ultraschall zu zeigen. Sie hat die Schwangerschaft fortgesetzt und ein Mädchen zur Welt gebracht. Ich war erstaunt, als sie mir mitteilte: „Bis dahin hatte mich nie jemand gefragt, was mich wirklich interessiert. Zumindest hätte ich, wenn ich mich gefragt hätte, gesagt, dass ich abtreiben möchte. Aber ich selbst und meine Wünsche für das Leben wären nicht einbezogen gewesen. Aber Sie, Doktor, hatten den Mut, mich dies zu fragen.“ Es war nicht meine Leistung, denn ich hatte in diesem Moment keine Lust zu diskutieren. Vielmehr schien es mir geradezu selbstverständlich. Aber es war nicht selbstverständlich. Ich habe wieder entdeckt, wie wichtig das Urteil ist und die Erziehung, das Ich wachzuhalten. Wenn nicht in allem unser Ich ins Spiel kommt, dann bleibt alles, was wir leben und erleben, ein schönes, unnützes Gefühl.
Andrea, Mailand


Wenn uns das Unvorhergesehene im Aufzug begegnet

Montagnachmittag. Von einem Kundentermin kehre ich gerade ins Büro zurück. Wie gewöhnlich nehme ich den Aufzug. Er hält im Erdgeschoss. Ein behindertes Mädchen wird von der Großmutter im Kinderwagen reingeschoben. Ich lächele ihm entgegen, streichele es und frage es nach dem Namen. Die Großmutter antwortet, dass es nicht hören könne. Seit zwei Jahren muss es im Rollstuhl sitzen und die Lebenserwartung beträgt noch sechs Monate. Zwei Sätze, ein Augenblick, ein Leben. Meine Nichte fällt mir ein. Cecilia, zwei Jahre alt, hübsch, lebendig, immer in Bewegung. Nur noch eine Etage und wir haben das Ärztehaus erreicht. Die Großmutter verabschiedet sich. Ich bleibe noch im Aufzug. Mir ist zum Weinen zumute. Es war noch nicht einmal die Zeit, nach dem Namen des Kindes zu fragen. Der Rest des Tages vergeht im Nu. Es ist schon Abend, als die Erinnerung an diese Begegnung mich nicht schlafen lässt. Ich denke an die Eltern des Kindes, an die Verwandten. Liebe, die ergriffene Hingabe seiner selbst − das ist kein Slogan. Es ist die Art, vor dem Leben zu stehen. Nicht eine Rechnung aufstellen. Und du bist da, mit jenem geheimnisvollen Engel an der Seite, der jeden Tag auf dich schaut und dich fragt: „Worauf setzt du deine Hoffnung?“
Angelo


Das Opfer hat alles gewandelt

Lieber Julián, ich möchte in aller Einfachheit das bezeugen, was ich durch Seinen Willen in diesen Tagen geschehen sah. Auch für mich war der 16. Mai ein besonderer Tag. Nicht nur wegen der Bekräftigung dessen, worauf mein Leben beruht, wie dies mit der Kundgebung auf dem Petersplatz geschah. An diesem Tag empfingen auch meine Katechismus-Zöglinge das Sakrament der ersten Beichte. Sie sind für mich wie Kinder, auf die man einzeln schaut und auf dem Weg der Erkenntnis begleitet, damit sie Ihm begegnen. Ich habe mit ihnen gemeinsame gebetet in der Erwartung jenes Augenblicks, in dem die Gnade des Herrn auf jeden von ihnen herabkommt. Deshalb dachte ich mir, „nicht einmal Carrón würde von mir fordern, die Kinder in diesem Moment alleine zu lassen“. So entschied ich, nicht nach Rom zu fahren, obwohl ich durchaus Den bezeugen wollte, auf Dem mein Leben ruht – in einer Zeit, in der alle das Gegenteil behaupten und das Offensichtliche leugnen. Ich war mir also sicher, dass man dieses Opfer nicht von mir verlangen könnte.
Ich hatte mich über Jahr bemüht, die Bewegung als menschliche Wirklichkeit anzunehmen. Und oft habe ich unter der Unfähigkeit gelitten, dies auch wirklich zu tun. Ich erkannte den Weg, aber er schien mir ein Diskurs und mein Herz sehnte sich nach mehr. Beim letzten Seminar der Gemeinschaft hat Du uns gefragt, ob wir uns für die Dinge des christlichen Lebens interessieren würden, wenn wir nicht der Bewegung und folglich Christus, der Kirche und der Beziehung zum Papst, dem Stellvertreter Christi auf Erden, begegnet wären. Da verstand ich, dass ich ohne dieses „etwas, das vorher kommt“ niemals Katechetin dieser Kinder geworden wäre. Ich hätte sie niemals so anschauen und lieben können. So konnte ich von diesem Ursprung aus verstehen, dass der Gestus vor allem anderen kam, weil er alles hervorbrachte. In diesem Augenblick fiel die Entscheidung. Ich wollte aber die Erlaubnis des Pfarrers. Denn wie sollte ich nach Rom fahren, um meine Bindung an den Papst, das Haupt der Kirche, zu bezeugen, wenn ich nicht demgegenüber gehorsam war, der die Ortskirche repräsentiert? Und das wurde schwierig. Der Pfarrer gab mir zu verstehen, dass ich angesichts meiner Aufgabe dableiben sollte. Der Gestus von Rom sei nur an die Bewegungen gerichtet. Ich betete zum Herrn und vertraute mich Seinem Willen an. Er hat mich nicht im Stich gelassen. Ich erläuterte meinem Pfarrer die Gründe und sagte ihm, dass der Gestus sich auch an ihn richte. Damit geschah etwas Außergewöhnliches: Er gab mir nicht nur die Erlaubnis, sondern sagte, dass er bei der Feier für uns und mit uns beten werde. Ich weinte vor Rührung und dankte ihm. Vor allem aber dankte ich dem Herrn, dass Er uns beide benutzt hat, um uns zu Werkzeugen Seines Willens zu machen. Auf dem Petersplatz war es für mich ein „Mehr“. Das Opfer hat mein Dasein und meine Arbeit als Katechetin wahrer und bedeutsamer gemacht: Ich war dort mehr mit meinen Kindern verbunden, als wenn ich physisch bei ihnen gewesen wäre. So hat am Ende auch jedes von ihnen den Segen des Papstes empfangen.
Maria Luisa, Varese


Dante, der Andere und die Herausforderung der Freiheit

Vor einigen Wochen las ich mit den Schülern aus der neunten Klasse Dante. Es ging um den Abschnitt über Sehnsucht und Freiheit. Eine Schülerin widersprach dem Gesagten. Sie behauptete, dass Dante sich täusche. Ich bedrängte sie mit vielen Fragen und Beobachtungen. Ich wollte sie dazu bringen, die Wahrheit des Gelesenen, die für mich absolut offensichtlich war, anzuerkennen. Schließlich machte sie sich Luft und sagte: „In Ordnung, wenn Sie wollen, dann sage ich zu Ihnen, dass es so ist. Ich sage ihnen Ja, aber für mich ist es ein Nein!“ Plötzlich bemerkte ich, dass Federica mit ihrer ganzen Andersartigkeit vor mir stand, und ich spürte die Freiheit, sie zu bitten, mir zu erklären, was sie so sehr durcheinanderbringe und irritiere. Der Wunsch zu verstehen war plötzlich notwendiger und interessanter als der Wunsch, sie zu überzeugen. Die große Liebe Christi zu mir zeigt sich durch Seine Unermüdlichkeit, mit der Er mich mit den Dingen konfrontiert, mit den Situationen, mit Personen und mit meiner Arbeit, damit ich immer die Möglichkeit erhalte, zu prüfen, wo ich in Bezug zu Ihm stehe, der mich in jedem Augenblick neu aufsucht.
Sara


Ein Checkup mit Überraschung
Das schönste Abenteuer nach 30 Jahren in der Bewegung


Lieber Don Julián, in meiner Praxis (ich bin Kardiologe) kommt eine Frau mittleren Alters, um sich untersuchen zu lassen, und sagt mir, dass sie eine Vorsorgeuntersuchung machen lassen möchte. Dann fügt sie hinzu: „Wissen Sie, Herr Doktor, mein Mann ist vor einigen Jahren verstorben, und ich habe von da an mein ganzes Leben meinen Kindern gewidmet. Ich habe Opfer gebracht, ich habe ihnen ein Studium ermöglicht. Jetzt, nachdem sie geheiratet haben, habe ich niemanden mehr, dem ich mich widmen kann und ich empfinde mein Leben als nutzlos. Ich bin auf der Suche nach einem inneren Frieden, den ich immer ersehnt habe, den ich aber niemals finden konnte. Deshalb habe ich vor allem Angst.“ Während die Frau sprach, dachte ich, dass ich dem, was sie suchte, begegnet war, und ich antwortete ihr: „Schauen Sie, meine Erfahrung ist, dass im Laufe der Jahre (ich bin 58) die Dinge und die Liebe, auf die wir unsere Hoffnung gesetzt haben, weniger werden. Die erste Reaktion ist diejenige, komplett versagt zu haben und sich unnütz zu fühlen. Ich habe jedoch bemerkt, dass ich wie ein Kind bin, dem der Vater die Playstation, die er ihm geschenkt hat, wieder wegnimmt, weil er merkt, dass das Geschenk dem Kind schadet. Er nimmt sie ihm nicht weg, weil er ihm etwas Böses antun will, sondern gerade deshalb, weil er es gern hat und weil er will, dass das Kind ihn erkennt, ihn anschaut und in der Beziehung zu ihm wächst. Schauen Sie, so bin ich vom Geheimnis behandelt worden, von Ihm, der mein Leben mit Liebe und so vielen guten Dingen erfüllt hat, auf die ich so lange Zeit meine Hoffnung gesetzt habe. So verstehe ich, dass dieser Vater mich gern hat und alles daran setzt, dass ich Ihn erkenne und mich an Ihn halte. Ihr Leben ist nicht unnütz; es ist nur der Moment gekommen, diesem Du ins Gesicht zu schauen. Es ist für Sie notwendig, Ihn zu erkennen, denn der Friede, den Sie suchen, ist Er.“ Am Ende des Arztbesuchs habe ich ihr vorgeschlagen, am 16. Mai mit meinen Freunden nach Rom zu kommen, um ihr die Möglichkeit zu geben, dem nachzufolgen, was ich ihr vorgeschlagen habe. Als wir uns verabschiedeten und uns dabei daran erinnerten, dass nichts durch Zufall geschieht, lächelte sie. Seit einigen Tagen denke ich an das zurück, was geschehen ist. Was mich überrascht, besteht darin, zu entdecken, dass der Blick und das Herz, mit denen ich gesprochen habe, nicht die Früchte meiner Fähigkeiten sind. Es ist, als ob das Herz und der Blick eines Anderen die Oberhand gewonnen hätten. Dieses Du zu entdecken, das meiner nicht müde wird, das mich weiterhin sucht und gern hat, ist das schönste Abenteuer, das ich je erlebt habe, nach 30 Jahren in der Bewegung.
Antonio, Imola (Bologna)