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Südafrica - Mehr als Sport
Die List der Vergebung
Saverio Rando

Mi der Fußballweltmeisterschaft richten sich alle Blicke auf Südafrika. Nelson Mandela, die Symbolfigur der Überwindung des Rassismus, genießt zwar weiterhin höchste Wertschätzung, doch hat er seinen politischen Einfluss verloren. Damit kehren überwunden geglaubt Probleme zurück.

Am 18. Juli, genau eine Woche nach dem Finale der Fußball-Weltmeisterschaft im eigenen Land, wird Nelson Mandela 92 Jahre alt. Der Friedensnobelpreisträger hat sich, mittlerweile von Demenz gezeichnet, aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen. Doch seine ruhige Stärke bräuchte das heutige Südafrika nötiger den je.
Barack Obama hat das Buch Hoffnung wagen geschrieben − zu Mandela würde der Titel Die List der Vergebung passen. Von Bill Clinton wurde er einmal gefragt, wie groß die Wut in ihm sei über 27 Jahre der Inhaftierung. „Bis zur Nacht vor der Freilassung war ich rasend vor Zorn. Aber dann habe ich entschieden, meine Gefühle zu kontrollieren. Wäre ich von Bitterkeit erfüllt geblieben, hätten sie es am Ende geschafft, meinen Geist weiterhin gefangen zu halten.“ Sie, das sind die politischen Gegner, die Bürokraten des Apartheid-Regimes, mit denen der Ex-Häftling als Präsident des neuen Südafrika umzugehen verstand, ohne das Land an den Rand eines Bürgerkrieges zu manövrieren. Dank einer Idee von Vergebung an Stelle von Vergeltung, die mehr taktische List denn moralischer Imperativ war. Vermutlich war Mandelas Antwort auf Clintons Frage eine kalkulierte Pointe. Statt anzunehmen, dass er seinen Wächtern im Laufe einer Nacht „verzeihen“ konnte, erklärt sich seine Haltung als das Resultat von Jahren der Reflexion und des Studiums seiner Gegner.
Der Anfang des jüngst erschienenen Films Invictus über Mandelas Leben basiert auf einer Romanvorlage von John Carlin mit dem englischen Originaltitel Play the Enemy (Der Sieg des Nelson Mandela: Wie aus Feinden Freunde wurden, Herder, 2008). Eine Übersetzung mit „Liebe deinen Feind“ liegt nah, doch gibt es einen kleinen, aber wichtigen Bedeutungsunterschied: Lieben wäre ein zu großes Wort für Mandela, der sich immer dagegen verwehrt hat, als Heiliger dargestellt zu werden. Einer Bedeutung des englischen Wortes „play“ entsprechend lässt sich dagegen besser sagen, dass Mandela seine Gegner „ausspielte“, ähnlich einem Spielzug auf dem Fußballfeld. Statt sie zu umarmen, nahm er sie in den „Schwitzkasten“. Er spielte sie aus, indem er in ihrer Sprache sprach, ihre Leidenschaften teilte. Wie als er im Gefängnis die Namen und Vereine der weißen Spieler der heimischen Rugby-Liga auswendig lernte, um sich so die Sympathie des Polizeichefs, eines großen Fans der Sportart, zu sichern.

In seinen Memoiren findet sich der Satz: „Sich einfach niederzusetzen und dem Feind damit die Möglichkeit zu nehmen, Gewalt anzuwenden, ist die beste Strategie“. Ihn damit „aus der Deckung kommen zu lassen“, wie man im Boxsport sagt, den Mandela sehr liebt und noch im hohen Alter, wenn auch selbst gebrechlich und geistig eingetrübt, im Fernsehen verfolgt. Als die „Weißen“ ihn 1990 aus der Haft entließen, hatten sie Angst vor seinem möglichen Rachefeldzug. Sie befürchteten ähnliche Konsequenzen wie bei der Freilassung Khomeinis im Iran. Der Südafrikanische Geheimdienst gab ihm sogar den Decknamen „Ayatollah“). Mandela wusste ihre Angst zu zerstreuen, indem er sie in sein Spiel verwickelte − im Interesse der schwarzen Mehrheit. Diese „List der Vergebung“ ist das Geheimnis einer der außergewöhnlichsten Persönlichkeiten der Gegenwart, eine eher mathematische als magische Formel, an die sich das heutige, zu Ungeduld und Geschichtsvergessenheit neigende Südafrika erinnern sollte.

Bei einem der zahlreichen unterhaltsamen Auftritte der beiden Nobelpreisträger Nelson Mandela und Bischof Desmond Tutu empfing letzterer den Freund einmal zu einem Vortrag mit einer tiefen Verbeugung. Darauf hielt der Eingeladene mit dem typischen gemusterten Hemd schützend die Hand empor und entgegnete: „Ich bin ein Sünder.“ Der Bischof erhob sich und antwortete scherzhaft: „Mein Sohn, ich erteile dir die Absolution“, worauf Mandela lachend erwiderte: „Wenn sie den Weg freimachen, kann sogar ich an die Tür des Paradieses klopfen.“

Öffentliche Szenen wie diese der beiden südafrikanischen lebenden Ikonen gehören heute der Vergangenheit an. An dem Abend vor sechs Jahren, als Südafrika zum Austragungsort der diesjährigen Fußball-Weltmeisterschaft gewählt wurde, erwarteten beide noch gemeinsam die Entscheidung (ein euphorischer Bischof Tutu versprach damals den FIFA-Delegierten einen „Freifahrtschein ins Paradies“). Doch heute, zur Zeit der Austragung des Turniers, sind die beiden großem Mittler des friedlichen Übergangs Südafrikas in den Hintergrund getreten. Statt ihrer stehen nun Jacob Zuma und Julius Malema, im Rampenlicht − der eine Staatspräsident mit seinen vielen Ehefrauen und dem Ruch der Korruption, der andere Führer der Partei-Jugendorganisation des ANC (Afrikanischer Nationalkongress) mit seinen Attacken gegen die weiße Bevölkerung. Der ANC, die Partei des Kampfes gegen die Apartheid, ist nach 16 Regierungsjahren zur zentralen Machtinstanz im Land avanciert, mit einer entsprechend breiten Anziehungskraft. Mandela liebte früher zu sagen, dass er im Paradies zu allererst die Lokalvertretung des ANC suchen würde. Wer weiß, ob er diese Aussage in diesen Tagen noch wiederholen würde. Jedenfalls würde es ihm von Desmond Tutu wohl nicht mehr so einfach verziehen. Der fidele emeritierte Bischof von Kapstadt ist heute noch viel unterwegs (allerdings mehr im Ausland als in der Heimat) und repräsentiert mit seinen 78 Jahren immer noch das kritische Gewissen dieses außergewöhnlichen Landes mit seinen 50 Millionen Bewohnern, die er selbst 1994 zur „Regenbogen-Nation“ taufte. Der Sturz des Apartheid-Regimes vor 16 Jahren war eines der bedeutendsten Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts. Für viele Südafrikaner liegt es schon lange zurück: ein Drittel der heutigen Bevölkerung war noch nicht geboren, als anlässlich der ersten demokratischen Wahlen im Land die Schranken zwischen Schwarzen und Weißen fielen. Es war ein echtes kleines Wunder, als ein Jahr später die „Rainbow Nation“ bei der Rugby-Weltmeisterschaft in den eigenen Stadien überraschend triumphierte. Ein über Jahrzehnte, Jahrhunderte buchstäblich nach der Hautfarbe getrenntes Volk erlebte seine Wiedervereinigung – und die Rückkehr in die Weltgemeinschaft – dank des gemeinschaftlich erfieberten und gefeierten Sieges der heimischen „Springboks“ in einer traditionell „weißen“ Sportart, deren ovaler Ball zuvor als Symbol des Rassismus und des internationalen Boykotts galt.

Ein nationales Heldenepos, das heute in vielen Köpfen zu verbleichen droht. Um die Farben – zumindest im Kino – etwas aufzufrischen, tritt Clint Eastwoods jüngster Film Invictus an, mit Morgan Freeman als Mandela und Matt Damon in der Rolle des Kapitäns des Rugby-Nationalteams, François Pienaar. Ein Hollywood-Film, der in Südafrika mehr Anklang unter der weißen Bevölkerung gefunden hat als bei den schwarzen Einwohnern. Tourismus-Minister Marthinus van Schalkwyk erzählte nach einem Besuch des Films mit seinem Sohn, der 1995 ein Jahr alt war, dass dieser ihn danach tief bewegt fragte: „Papa, ist es wirklich so gewesen?“ Als hätte die Geschichte auf der Leinwand etwas Neues ausgelöst. Der Springboks-Kapitän Pienaar berichtet von Freunden, die beim Schauen des Films zur Einsicht kamen, dass sie während der für sie angsterfüllten Zeit des Wandels selbst nicht genug Einsatz gezeigt hatten. Auf der anderen Seite des „Regenbogens“, in den Townships von Soweto und Cuguleto, in der ländlichen Lipopo-Provinz und in den Slums von Durban, sagt die in Invictus verarbeitete Geschichte den schwarzen Südafrikanern von heute wenig bis gar nichts. AIDS hat eine ganze Generation von ihnen dahingerafft, die mittlere Lebenserwartung liegt bei 50 Jahren. Dank politischer Quotenregelungen für die Wirtschaft ist zwar eine schwarze Mittelklasse entstanden (die sogenannten „Black Diamonds“), doch die Arbeitslosigkeit liegt weiter bei 40 Prozent. Die Kriminalitätsrate ist nach wie vor sehr hoch (neun von zehn Morden bleiben ungeklärt), weshalb wie in Johannesburg viele der besseren Wohnsiedlungen Stacheldraht-bewährten Festungen gleichen, während in den Ghettos etliche Haushalte ohne Licht auskommen müssen. Etwas zynisch könnte man sagen, dass Südafrika auf dem Weg ist, ein „normales“ afrikanisches Land zu werden, allerdings mit einer starken Ökonomie, die 30 Prozent der Wirtschaftsleistung des gesamten Kontinents erbringt. Und mit „normalen“ − das heißt auch sehr korrupten − Politikern und Verwaltungsangestellten.
Jeder Revolutions-Rausch, auch in der seltenen friedlichen Variante à la Südafrika, hinterlässt seine Enttäuschungen, Narben und Kollateralschäden. Fährt man während der Fußball-Weltmeisterschaft von Johannesburg nach Kapstadt, wird klar, dass die Ereignisse von 1994/1995 (die ersten Wahlen und der Rugby-Titel) der Vergangenheit angehören. Doch wurden sie verarbeitet oder vergessen? Ist die Regenbogen-Nation alltägliche Realität geworden, oder zu Rhetorik verflossen? Wohl von beidem ein bisschen. Vor wenigen Wochen sagte Desmond Tutu in London, dass Mandela zum Glück nicht mehr alles mitbekomme, was um ihn herum geschehe, denn er wäre enttäuscht und verärgert. Aus seinem Umfeld wird erzählt, dass, als er noch Zeitung las, sich dabei zuletzt ein seltsamer, leidvoller Ausdruck in seinem Gesicht zeigte. Natürlich hat die neue politische Führungsklasse nie aufgehört, ihn öffentlich zu verehren, auch wenn sie es sich jetzt leisten kann, ihm nicht mehr zuzuhören. Mandela ist verstummt, doch müsste seine ganze Vita für ihn schreien. Einer der wichtigsten Tätigkeitsbereiche der Stiftung in Johannesburg, die seinen Namen trägt, widmet sich der Aufarbeitung seiner Erinnerungen. Tausende Seiten Gefängnistagebücher, Notizen und Briefe warten darauf, in destillierter Form in einem großen Sammelband veröffentlicht zu werden … Die Schätze aus dem Mandela-Archiv enthalten zwar vermutlich keine Überraschungen, welche die Rezeption der jüngeren Vergangenheit verändern könnten. Doch Wort für Wort bilden sie eine einmalige praktische Hilfe für eine Gesellschaft, die den Verdacht hegt, in der Entwicklung zu langsam voranzuschreiten − oder sogar rückwärts zu gehen. „Wiederaufbau und Versöhnung gehen jeden Tag Hand in Hand“. Seine Worte würde Mandela heute an den jungen Malema richten, wenn dieser das alte Kampflied „Tötet den Buren“ anstimmt und die Wunden der Rassentrennung wieder aufzureißen versucht.
Doch keine Versöhnung ohne Wahrheit: Ende der 90er Jahre war es Desmond Tutu, der die Kommission „Wahrheit und Versöhnung“ leitete, welche die politischen Verbrechen während der Apartheid untersuchte und Tätern, die ihre Vergehen gestanden, Amnestie gewährte. Doch dass es dem Südafrika der Vergangenheit seine Schuld verziehen hat, gibt dem Südafrika der Gegenwart von Präsident Zuma und den Black Diamonds nicht das Recht, die Augen vor der eigenen Korruption und den gegenwärtigen Ungerechtigkeiten zu verschließen. Einen Freifahrtschein ins Paradies bekommen nur die Fußball-Delegierten. Und vielleicht noch nicht einmal die.