Logo Tracce


Gesellschaft - Jenseits der Gitter
Im Überwachen verändern
Paola Bergamini

Überfüllte Zellen, rückfällig gewordene Straftäter, Selbstmorde… Der Gefängnisalltag ist rau, in Deutschland wie in Italien. Umso mehr erstaunt es, wenn jemand behauptet: „Das Gefängnis war meine Rettung“ oder von Dankbarkeit spricht. Die neue Möglichkeit ergab sich für Andreas und Roberto aus einer Freundschaft mit Freiwilligen, und aus einer persönlichen Arbeit.

Laut Statistik befinden sich in den 206 italienischen Vollzugsanstalten 67.178 Strafgefangene. Mehr als ein Drittel sind Ausländer. Etwa jeder fünfte arbeitet als Angestellter in Betrieben, die der Gefängnisverwaltung unterstehen. Fast tausend sind für Sozialeinrichtungen tätig. Nachrichten und Kommentare in den Tageszeitungen berichten immer wieder von überfüllten Gefängnissen, Selbstmorden, zu frühen Entlassungen oder übertrieben harten Strafmaßen.

Ein ganz anderes Bild ergibt sich aus meinem Notizblock. Dort habe ich die Erzählungen derer festgehalten, die selbst Insassen waren oder noch sind. Viele Sätze sind rot unterstrichen. Einige davon lauten: „Die Veränderung bringt Freiheit hervor”; „Ich habe den Glauben wieder entdeckt, der ganz verborgen war”; „Mit ihnen begann eine Beziehung der Freundschaft”; „Ich habe mich wie in einer Familie gefühlt”; „Mich hat die Menschlichkeit beeindruckt”. In meinen Gedanken sehe ich ihre Gesichter, wie sie lachten und wie schüchtern sie am Anfang unserer Gespräche waren. Sie berichteten von der Freundschaft mit einigen Leidensgenossen bei der Arbeit oder mit anderen Personen, mit denen sie einfach ein wenig Zeit verbrachten. Diese Freundschaft hat ihr Leben verändert und sie glücklich gemacht.

Kann das bloßer Zufall sein, ein Einzelfall ohne weitere Bedeutung? Eine Insel von Glückseligen, wie es einer genannt hat, der von der Erfahrung in Padua berichtete? Oder sind es nicht doch eher Leitpfosten mit Reflektoren, die am Straßenrand nachts den Straßenverlauf markieren? Diese zweite Hypothese wollte ich prüfen. Deswegen habe ich zunächst versucht, über die Ereignisse in einigen Gefängnissen der Lombardei zu berichten und dabei solche Zeichen und Wegweiser zu sammeln und zu beschreiben.

Menschenfischer: In Bresso bei Mailand haben Freunde von „Incontro e presenza” einige Wohnungen gemietet, die sie im Bedarfsfall den Strafgefangenen und ihren Familien zur Verfügung stellen. Der Verein entstand 1986 am Mailänder Gefängnis San Vittore aus der Erfahrung von CL. Inzwischen hat er sich längst auf andere Gefängnisse in Mailand ausgedehnt. Der Verein unterstützt Strafgefangene bei der Arbeitssuche oder hilft ihnen, die Beziehung zur Familien zu verbessern und wieder soziale Beziehungen aufzubauen, damit sie in der Gesellschaft Fuß fassen können.

Vor dem Tor erwartet mich Andrea, mit zwei prall gefüllten Einkaufstüten. Er ist Bankdirektor. „Dieses Wochenende bekam ein Strafgefangener nach 20 Jahren zum ersten Mal eine Ausgangserlaubnis. Meine Frau hat alles Lebensnotwendige eingekauft“, erklärt er mir. „Jetzt kommen gleich Antonio und Andreas. Wir haben sie in den Gefängnissen von San Vittore und Bollate kennen gelernt. Mittlerweile sind sie draußen. Wir sehen uns immer. Als Antonio bereits im offenen Vollzug war, kam er mit einigen Familien der Gemeinschaft zu den Ferien. Er ist mein Freund.“ Antonio hat drei Kinder und ist 59 Jahre alt. Mehr als die Hälfte verbrachte er im Gefängnis. „Ich war im fünften Flügel von San Vittore, das ist der Hochsicherheitstrakt“, berichtet Antonio. „Eines Tages kam ein Freiwilliger mit einem Wägelchen und verteilte Kleidung. Ich rufe ihn, um auch etwas zu bekommen. Er übergab es mir auf so freundliche Weise, dass ich beeindruckt war. Ich fragte ihn nach seinem Namen und, ob wir uns wieder sehen könnten. Eine Woche später kam er mit einer Schachtel Buntstifte. Er wusste, dass ich kleine Kinder hatte. Dann lernte ich auch Mirella und die anderen kennen, die samstags kamen, um mit den Strafgefangenen zu sprechen. Gleichsam als Herausforderung begann ich hinzugehen. Es entstand eine Freundschaft, die meinen Panzer durchbrochen hat. Sie stellten keinerlei Ansprüche, sprachen über alles und verbrachten ihre Zeit mit uns. Sie gaben mir meine Freiheit zu denken, zu sprechen und zu handeln zurück.“ Diese Freundschaft gab Antonio nie wieder auf. Er brach vielmehr mit seinem früheren Leben. Aber wieso verhielten sich diese Leute so? „Auch sie müssen einen Tritt von Jemand da oben bekommen haben. Sie waren meine Fischer. Zuerst kamen sie zu mir und jetzt komme ich zu ihnen. Ich helfe ihnen im Verein.“

Andreas hat noch immer einen ausgeprägten deutschen Akzent, auch wenn er schon seit sieben Jahren in Italien ist. Seitdem er in Haft kam. In seiner trockenen Aussprache sagt er: „Beim ersten Treffen mit Beatrice und Tina im Gefängnis von Bollate sagte ich ihnen klipp und klar: ‚Ich bin Atheist und Kommunist. Passt das?’ Darauf sagten sie: ‚Das ist kein Problem’. Sie waren an meiner Person interessiert, wirklich an mir. Das unterschied sie von den anderen Freiwilligen. So fing alles an. Als ersten Schritt musste ich zu meiner Situation und meiner Verantwortung stehen. Ich begann einen Glaubensweg. Ich habe noch nicht ja gesagt, aber der Weg ist gewiss. Das Gefängnis war meine Rettung.“

Person, Freiheit und Weg. Die ersten Leitpfosten sind gesteckt und leuchten entlang des Weges. Bollate, vor den Toren Mailands, ist ein Gefängnis mit Modellcharakter und einzigartig in Italien. Es wird ein neues Vollzugssystem erprobt. 70 Prozent der Strafgefangenen arbeiten. Die Rückfallquote ist weit geringer. Es gibt Werkstätten für die Verarbeitung von Leder, Schreinereien und Gewächshäuser. Die Strafgefangenen können sich treffen und bekommen hierfür Zeit und Raum. Es gibt viele Freiwilligenverbände, die ihre Dienste anbieten. „Diese Beziehungen sind äußerst wichtig“, erläutert die Leiterin der Anstalt, Lucia Castellano. „Sie machen das Gefängnis zu einem Ort, an dem ein echter Neubeginn möglich wird. Die Gefangenen können neue Möglichkeiten ergreifen und an der zivilen Gesellschaft teilhaben. Der Freiwilligendienst drückt die Beteiligung des zivilen Lebens am besten aus“.

Leopardi und Mission
Beim Treffen mit den Ehrenamtlichen von „Begegnung und Gegenwart“ lerne ich Franco, Felice, Elena und Tina kennen. Tina ist fast 74 und nahezu blind. Seit über 20 Jahren kommt sie zweimal in der Woche ins Gefängnis. Immer wieder taucht ihr Name in den Erzählungen der Gefangenen auf. Sie wird respektiert und geliebt, ja fast verehrt. Auf einem Tischlein stehen Kaffee, Pizza und kalter Kamillentee. „Ich vertraue ihnen immer mehr“, meint Roberto. „ Sie tun alles umsonst; sie sind wie meine Familie. Sie tragen etwas in sich. Denk ich an meinen Fehler, dann besteht er wohl vor allem darin, dass ich nicht um Hilfe gebeten habe.“ Niemand fragt die Inhaftierten, welche Straftat sie begangen haben. „Aber nach einiger Zeit erzählen dir alle davon. Das Vergehen belastet sie wie ein Felsblock“, erklärt Franco. Nino ist 39 Jahre alt, 22 davon hat er im Gefängnis verbracht. Er ist stellvertretender Herausgeber von Ganzheitliche Gesundheit, einem Informationsblatt des Gefängnisses. „Ich bin nicht gläubig, aber seit drei Jahren komme ich nicht mehr ohne diese Beziehungen aus. Mit Tina haben wir Leopardi gelesen und den Film Mission angesehen. Wenn ich bei ihnen bin, sage ich mir, dass die Möglichkeit von etwas Gutem außerhalb dieser Mauern existiert.“ „Dass es eine andere Weise gibt, das Leben zu leben“, ergänzt Vincenzo. „Wenn sie mich nicht besuchen kommen, fehlt ein Teil von mir. Ich fühle, dass sie an mich denken und dass ich geliebt bin“, fährt Giuseppe fort. „Es sind Freunde und Begleiter für das Leben. Ich kann sagen, dass ich die Möglichkeit habe, erneut eine wahrhaft christliche Begegnung zu machen.“

Ein Tropfen im Meer.
Freundschaft, Glaube, Vertrauen, Veränderung. Diese Worte sind auch bei den Insassen des Gefängnisses von Como im Umlauf, wo die logistische Situation eine völlig andere ist. Hier sind die Zustände so wie üblicherweise in italienischen Gefängnissen: Überbelegung, verfallende Gebäude und so weiter. Die Kooperative Homo Faber betreut ein Pressezentrum mit Kursen für Graphiker, aber von den 550 Gefangenen können nur zwanzig aufgenommen werden. Hier hat Dario zunächst die Leiterin Patrizia, dann ihre Freunde kennengelernt. Was ihn beeindruckte, war die Tatsache, „dass ihre Haltung mir gegenüber nie von meinem Fehler ausging. Es ging um mich als Person. Vielleicht hat dies dazu beigetragen, dass mir über das Böse bewusst wurde, das ich getan habe. Und das war viel. Nun verstehe ich den Schmerz meines Vaters.“ Dario spricht mit seinem Zellengenossen Edmondo, der inzwischen aus dem Gefängnis entlassen wurde, über diese Freunde. „Anfangs ging ich aus Neugier dorthin. Die Arbeit eröffnet dir zwar diese Möglichkeit, aber die Entscheidung liegt bei dir. Nicht alle, die im Pressezentrum arbeiten, haben sich für diese Freundschaft entschieden. Wenn ich mein Leben überdenke, sehe ich nur Fehler, die sich ständig wiederholen. Wie oft hat Christus mich gerufen. Aber vielleicht war es nicht der richtige Zeitpunkt. Aber diesmal ist es der richtige Zeitpunkt, ich kann vertrauen.“
Es scheint ein Tropfen im Meer der Verzweiflung. „Stimmt“, sagt Antonio, Kommandeur der Gefängniswachen, „aber er ist da. Das gibt uns die Hoffnung, dass die Veränderung möglich ist. Jene Beziehungen aus reiner Nächstenliebe bringt eine neue Menschlichkeit hervor. Das können wir sehen. Unsere Aufgabe besteht nicht nur im Bewachen, sondern auch darin, die Strafe auf eine neue Erziehung hin auszurichten. Wir können uns nicht darauf beschränken, die Zellen auf- und zuzusperren.“ Er fügt hinzu: „Das Motto der Gefängniswärter ist: ´Unsere Aufgabe besteht in der Mitteilung der Hoffnung.´“
Beziehungen aus Nächstenliebe, das heißt eine Freundschaft zwischen denen, die im Gefängnis sind und denen, die draußen sind. Eine gegenseitige Bereicherung. Spontan würde man sagen: Unmöglich! Aber wir haben es gesehen, es sprang uns in die Augen. Mehr noch: Jede Freundschaft baut auf und rettet. Sie erinnert an die Worte des heiligen Augustinus: „Man muss die Sünde verfolgen, nicht die Sünder.“