Logo Tracce


Gemeinsam mit Petrus
Eine Umarmung, die die Wunden heilt
Lorenzo Albacete

Der Missbrauchsskandal birgt eine Herausforderung, die Julián Carrón in folgende Worte gefasst hat: Es geht darum, unsere Bedürfnisse vollkommen ernst zu nehmen. Angefangen beim Bedürfnis nach Gerechtigkeit. Der Erzbischof von Boston, Sean O’Malley, steht an der Spitze eines der am schwersten betroffenen Bistümer. Er berichtet, was diese Herausforderung für ihn bedeutet. Und wo er sehen konnte, dass Christus allein uns die Hoffnung gibt, mit der wir neu beginnen können.

Albacete: Julián Carrón hat in einem Artikel das Missbrauchsthema als ein Problem der Gerechtigkeit dargestellt. Das hat mich beeindruckt, ich hatte nie unmittelbar daran gedacht: an einen Mangel an Gerechtigkeit, daran, dass ein jeder die Erfüllung seiner Sehnsucht nach Gerechtigkeit will. Daher meine Frage an Sie, die Sie so viel Erfahrung in diesem Bereich haben: Wie hilfreich ist es Ihrer Meinung nach, Antworten auf die Krise zu suchen, indem man sie als Beispiel für das sieht, was Carrón als „Unfähigkeit“ bezeichnet, „eine Antwort auf das Verlangen unseres Herzens nach Gerechtigkeit zu finden“? Halten Sie diesen Ansatz für hilfreich?

Kardinal O’Malley: Ja. Ich denke schon, denn diese Kinder haben schweres Unrecht erlitten. Sie haben ihre Unschuld verloren, und erschwerend kommt hinzu, dass derjenige, der ihnen Gewalt antat, für sie Gott und das Transzendente vertrat. So wurde nicht nur ihr psychologisches Wohlergehen, sondern auch ihr geistliches Leben beschädigt. In meiner Erfahrung fallen die missbrauchten Kinder sehr oft in eine von zwei Kategorien. Sie kommen entweder aus tiefgläubigen katholischen Familien, die sehr aktiv in der Pfarrei waren und dem Priester sehr nahe standen, oder aus kaputten Familien, die sie sehr verletzlich machten. In beiden Fällen stellt der Missbrauch einen schrecklichen Verrat dar und ist damit eindeutig ein Problem der Gerechtigkeit. Verschlimmert wird dies durch die Tatsache – ich denke hier besonders an die Tage, als das Problem am größten und die Antwort der Kirche am schlechtesten war – dass dieser Aspekt der Vergewaltigung des Kindes, des dem Kind angetanen Unrechts gänzlich übergangen wurde. Der Schwerpunkt lag auf dem Täter, der Frage, wie man den Täter bestrafen oder rehabilitieren sollte. Es wurde oft die Parallele zum Alkoholismus gezogen: die Person nimmt an einem Programm teil, gewinnt die Selbstkontrolle zurück, und mit etwas mehr Willenskraft wird alles gut. Aber niemand empfand oder erkannte das Unrecht und den Schaden, der den Kindern und ihren Familien zugefügt wurde, oder legte einen Schwerpunkt darauf. Und natürlich lag alles unter dieser Decke von Scham und Geheimhaltung, welche die Leute daran hinderte, über diese Dinge zu reden. So wurden die Kinder sogar noch mehr geschädigt, weil sie ihre Bürde mit niemandem teilen konnten, sie konnten sich nicht einmal an ihre Eltern wenden, um Trost oder Weisung zu erfahren. Sondern sie wurden allein gelassen in ihrer Verwirrung und ihrem Leid darüber, dass jemand sie vergewaltigt hatte, der für sie Gott vertrat.

Albacete: Carrón spricht von einer „Unduldsamkeit, ja sogar Enttäuschung der Opfer“…

Kardinal O’Malley: … In jedem Fall. Und ich denke, das ist auch nicht nur ein Gegengift für diejenigen, die alles schlicht als Medienkampagne gegen die Kirche sehen wollen. Carrón geht von den Opfern und ihrer Erfahrung aus, von der Frage, was ihnen geschehen ist und wie unsere Antwort aussehen muss angesichts der Erfahrung der Opfer und des Schadens, der ihnen zugefügt wurde.

Albacete: Mich hat auch die Feststellung beeindruckt, dass in einem gewissen Sinne sowohl die Opfer als auch die Täter vor der Tatsache stehen, dass „nichts hinreichend ist, um das angerichtete Böse wieder gutzumachen.“ Selbst wenn die Täter die Höchststrafe verbüßen müssten, die das Strafrecht ihnen auferlegen kann, würde die Wunde dennoch in ihnen verbleiben.

Kardinal O’Malley: Und nur im Glauben, in der Vergebung und in Gottes Erbarmen können wir über diesen Punkt hinauskommen. Aber wenn wir das nicht haben, dann bleibt natürlich eine unheilbare Wunde.

Albacete: Carrón zufolge ist die persönliche Antwort des Papstes auf die Krise durchdrungen von seinem Verständnis des unendlichen Verlangens des menschlichen Herzens nach Gerechtigkeit, das nur in Christus und durch Christus erfüllt werden kann.

Kardinal O’Malley: Absolut. Ich denke, er hat dies sehr treffend analysiert und das Wesen des Ansatzes erfasst, dessen sich der Heilige Vater hier bedient.

Albacete: Abschließend, so scheint es mir, sagt Carrón, der Heilige Vater sehe die größte Gefahr beim Versuch der Krisenbewältigung darin, „Christus von der Kirche zu trennen – unter dem Vorwand, dass sie viel zu schmutzig sei, als dass Christus sich durch sie mitteilen könne.“ Inwieweit entspricht das Ihrer Erfahrung?

Kardinal O’Malley: Nun ja, wir hatten gerade den Sonntag der göttlichen Barmherzigkeit. Der auferstandene Christus ist wiedergekommen, um die Verstreuten zu sammeln, die Wunden der Sünde zu heilen und uns des Erbarmens Gottes zu versichern. Und um uns die Hoffnung zu geben, auf deren Fundament wir nach solchen Katastrophen in unserem Leben wieder aufbauen können.

Albacete: Können Sie in Boston schon so etwas wie eine Art Bewegung in dieser Richtung erkennen, dass Menschen allmählich „die unendliche Liebe Christi zu jedem von euch wieder entdecken“, Ihn entdecken als den Einzigen, der die Wunden heilen kann, die all dies geschlagen hat? Sehen Sie Bewegung in diese Richtung?

Kardinal O’Malley: Ja, und ich habe mich schon mit Hunderten von Opfern getroffen. Während der Karwoche habe ich sogar einige Opfer getroffen, die sehr tief mit der Kirche versöhnt sind und in ihrem Leid Gottes Erbarmen und Stärke erfahren haben. Aber das Traurige ist, dass jedes Mal, wenn die Sache wieder auftaucht, sie auf vielfältige Weise die Leute erneut zu Opfern macht. Das ist das Traurige. Und so müssen wir hoffentlich jedes Mal, wenn es wieder hochkommt, dies als einen Moment der erneuten Verpflichtung zur Heilungsarbeit nehmen und den Menschen versichern, dass die Sicherheit der Kinder für uns in der katholischen Kirche das Allerwichtigste ist.