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Das große Interview - Eine Frage um Leben und Tod
Wenn das Ich zum Idol wird
John Zucchi

„Es gibt nichts Wichtigeres als mein Ich“. Das Problem ist nicht der Individualismus, sondern die „radikal egoistische“ Form, die er angenommen hat, betont die kanadische Professorin für Ethik und Recht, Margaret Somerville. Sie ist davon überzeugt, dass nur eine Überwindung dieser Haltung zum wahren Wesen des Menschseins führt und damit auch zum Sinn angesichts „des Geheimnisses des Lebens“. Margaret Somerville ist Gründerin und Leiterin des Zentrums für Medizin, Ethik und Recht der McGill University Montréal. Im Interview mit ihr wollte Spuren den Punkt vertiefen, den Carrón als „ein Problem“ bezeichnet hat, „das so alt ist wie der Mensch“: der Individualismus (vgl. Tracce, n. 11/2009).

In Ihren zwei Büchern, The Ethical Canary und The Ethical Imagination sprechen Sie von einem „radikalen Individualismus“. Was verstehen Sie darunter?

In meinem Tätigkeitsfeld begegnen mir nicht selten Leute, die auf die Aussage, es müsse verboten sein, Kinder zu designen, erwidern: „Nun, aber wem gehört das Kind? Das ist mein Kind. Ich will es so, und das werde ich tun.“ Sagt man, dass die Euthanasie keine gute Idee sei, erwidern sie: „Das ist mein Tod, warum sollte ich es nicht tun?“ Und zum Problem genetischer Manipulationen antworten sie: „Aber es sind meine Gene…. .“ Ich könnte die Liste um viele Beispiele ergänzen. „Es ist mein, mein, mein ….“. Sie betrachten die Situation nur von einem einzigen Gesichtspunkt aus, nämlich dem radikalen Individualismus. Dann handelt es sich eben um ihr Kind, ihren Tod und ihre Gene. Das individuelle Verhalten aber überträgt sich auf die anderen. Das ist die Natur des Menschseins und des Lebens in der Gesellschaft. Gleich wie radikal der eigene Individualismus sein mag, so muss man dennoch überlegen, wie weit man gewillt ist zuzugestehen, dass dieser Individualismus zum Wohl der anderen und der Gesellschaft eingedämmt wird. Als würde man sagen: „Da ich ein menschliches Wesen bin, und als isoliertes Individuum nicht vollkommen Mensch sein kann, brauche ich eine Gemeinschaft. Ich muss daher einen Teil meines Individualismus opfern, um eine Gemeinschaft zu unterstützen und hervorzubringen“.

Aber versteht der Mensch, welches seine wahren Bedürfnisse sind?

Wir können sie nicht alle bewusst verstehen. Wahrscheinlich erkennen wir viele nicht, aber wir nehmen einige von ihnen wahr.

In welcher Form?

Wir bemerken, dass etwas fehlt, oder erahnen, dass etwas falsch ist. Die Menschen haben ein tiefes Bedürfnis und ich glaube, das Wesen des Menschseins besteht darin, einen Sinn zu suchen. Unter Umständen wissen die Menschen selbst nicht, dass sie nach einem Sinn suchen. Wenn sie beispielsweise nach Markenartikeln suchen, so suchen sie vermutlich eigentlich nach einem Sinn. Laut Meinungsumfragen wächst in Nordamerika am stärksten das Bedürfnis, etwas Größerem als man selbst anzugehören, einer Gemeinschaft, einer Erfahrung der Transzendenz. Das ist ein sehr wirkmächtiges Bedürfnis, denn ohne dies können wir keinen Sinn finden. Ich war immer davon überzeugt, dass wir die wichtigsten Dinge, die wir als Menschen brauchen, nicht auf direktem Weg erlangen, sondern nur indirekt mit ihnen in Kontakt kommen.

Ein Beispiel?

Für einige geschieht dies in der religiösen Erfahrung: Man geht in die Kirche, aber man erhält nichts allein aufgrund der Tatsache, dass man gegangen ist. Aber es ist eine Erfahrung, die uns auf andere Dinge öffnet, und zwar auf diejenigen, die wir wirklich brauchen. Trotzdem sind wir uns nicht notwendigerweise der Natur all unserer Bedürfnisse, auf die wir Befriedigung suchen, bewusst. Damit verbunden ist die Frage, mit der ich mich seit langem beschäftige, was das eigentliche Wesen des Menschen ausmacht.

Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?

Wenn wir das schützen wollen, was das Wesen des Menschseins ausmacht, müssen wir uns natürlich in erster Linie fragen, worin es besteht. Ich weiß nicht, ob wir überhaupt in der Lage sind, dies zu tun. Aber wir müssen es versuchen. Lange Zeit glaubte ich, dass das Wesen des Menschseins in seiner Fähigkeit zur Empathie begründet liegt. Aber mittlerweile wissen wir, dass auch eine Maus Empathie für eine leidende Maus empfindet, und zwar dann, wenn diese zur selben „sozialen Gruppe“ gehört. Darum kann die Empathie keine besondere Eigenschaft des Menschseins darstellen. Auch wenn sie den Fremden – den guten Samariter – auszuzeichnen scheint. Letztlich jedoch denke ich, dass das Wesen des Menschseins in seiner Suche nach einem Sinn begründet liegt. Soweit wir wissen, verspürt kein anderes Tier dieses Bedürfnis. Vielleicht müssten wir auch die Vorstellungskraft hinzunehmen, die Tiere nicht besitzen.

Sie haben von der Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft gesprochen. Was fehlt unserem Verständnis von Gemeinschaft?

Ich denke, dass die Angst ein wichtiges Element ist bei allem, was wir tun. Ich bin der Meinung, dass das Leben in einer globalen Wirklichkeit viele Ängste hervorbringt. Wir versuchen Fixpunkte zu finden, um unsere Ängste und die Panik zu verringern. Eine Möglichkeit, der tiefen Angst Herr zu werden, besteht darin, die Kontrolle über das zu gewinnen, was uns erschreckt. Indem wir uns in uns selbst verschließen, glauben wir Panik und Angst in den Griff zu bekommen. Das Geheimnisvolle ruft Unbehagen hervor. Die gegenwärtige Strategie demgegenüber besteht darin, es in ein Problem zu verwandeln. Anstatt beispielsweise zuzugeben, dass der Tod vom Geheimnis umhüllt ist und einen anderen auf jenes Geheimnis hin zu begleiten, mit dem wir auch selbst konfrontiert sein werden, deuten wir das Geheimnis des Todes in das „Problem des Todes“ um. Anschließend suchen wir technische Lösungen für dieses Problem, so dass die Lösung des Todes in einer tödlichen Injektion besteht. Aber dies steht im diametralen Widerspruch zur ursprünglichen menschlichen Erfahrung des Todes. In der Psychologie bezeichnet man diesen Mechanismus als „Verringerung des Schreckens“. Die Euthanasie entspricht diesem Mechanismus, insofern uns der Gedanken des Todes terrorisiert. Wir haben keine Ahnung, wie wir ihm gegenübertreten sollen.

Liegt darin nicht ein gewisser Widerspruch? Auf der einen Seite wollen wir die Kontrolle gewinnen, auf der anderen Seite liegt das Charakteristikum unseres Menschseins in unserer Haltung gegenüber der Erfahrung des Geheimnisses, das Teil unserer Suche nach Sinn ist.

Genau so ist es. Mehr noch, der Verlust des Sinnes für das Geheimnis ist an einen Verlust einer Haltung zur Transzendenz gebunden.

Sie haben geschrieben, dass Sie den „tiefen Individualismus” auch bei ihren Studenten wahrnehmen. Wie zeigt sich das?

Ich unterrichtete eine Klasse mit vierzig Studenten des Abschlussjahrgangs der juristischen Fakultät, unter ihnen auch einige Doktoranden und Diplomanten zweiten Grades in humanistischen Disziplinen. Nur eine von ihnen sah in der Euthanasie ein Problem. Ich ging völlig zerschmettert aus dem Hörsaal. Vierzig angehende Anwälte die sinngemäß mit dem Gedanken durchs Leben gehen: „Die Euthanasie ist eine phantastische Idee“. Ich dachte sofort, dass es sich vielleicht nicht nur um die vierzig Studenten handle, sondern um die gesamte Gesellschaft. So habe ich einen Artikel verfasst und meinen Studenten gegeben. Ich erklärte darin meine eigene Auffassung und fügte hinzu, dass ich den Artikel nicht veröffentlichen würde, wenn nicht alle mit seinen Thesen einverstanden seien. Kein Einziger erhob irgendwelche Einwände, viele forderten die Publikation. Interessant war, dass sie sagten, sie wollten zwar den Mord nicht, aber sie könnten den Anblick des Leidens einfach nicht ertragen. Dies erklärt sich meiner Meinung nach dadurch, dass es in einer säkularisierten Gesellschaft extrem schwierig geworden ist, dem Leiden einen Sinn zuzuschreiben. Genau dies aber leistete einst die Religion, sie gab uns einen Sinn und einen Zweck, sogar in den schlimmsten Situationen. So hatte auch das Leid einen Wert, der die Erfahrung überstieg. Man denke bloß an diejenigen, die ihr eigenes Leiden als Opfer für die Seelen im Fegefeuer hingaben.

Sehen Sie eine Verbindung zwischen Individualismus und Einsamkeit?

Es gibt einen Unterschied zwischen der Einsamkeit und dem Gefühl, allein zu sein. Das Gefühl, allein zu sein, ist etwas anderes, es entspricht ein wenig der Bauernweisheit, dass man sich auch inmitten einer großen Menschenmenge einsam fühlen kann. Der tiefe Individualismus beraubt uns der Fähigkeit, einen Sinn zu finden. Wenn man ein radikaler Individualist ist, gehört man nur sich selbst, kann nichts Größerem angehören, und ist daher auch nicht in der Lage, einen Sinn zu finden. Oder anders gesagt, das zu finden, was wir in letzter Instanz suchen. Alleine sein, ist das Gefühl, dass einem etwas fehlt, was für den menschlichen Geist lebensnotwendig ist.

Und die Einsamkeit hingegen?

Die Einsamkeit ist eine Bedingung, die man sogar wählen kann, sofern sie nützlich ist, um das Ersehnte zu finden.

Glauben Sie, dass man in unserer Kultur Angst vor der Erfahrung der Wirklichkeit hat?

Wir mögen zufällige Erfahrungen nicht sonderlich. Die Zunahme der Extremsportarten zeigt den Wunsch, sich mit schwierigen Erfahrungen zu konfrontieren. Zwischen Autonomie und Selbstbestimmung, Konsens und tiefem Individualismus existiert eine enge Verbindung: dir kann nichts passieren, was du nicht selbst gewählt hast. Mir soll nichts geschehen, was ich nicht zuvor selbst gewählt habe. Der Extremsport ist ein Beispiel dafür, wie man selbst aussucht, welche erschreckende Erfahrung man machen will. Besser gesagt, ich lebe nur diejenigen Erfahrungen, die ich mir selbst ausgesucht habe.

Stehen Wissenschaft und Religion im Widerspruch zueinander?

Absolut nicht. Es hängt davon ab, wie man die Entdeckungen der Wissenschaften beurteilt. Betrachtet man sie als einzige Wahrheit, und nimmt an, dass nichts existiert, was nicht einfach logisch verstanden werden kann, dann verkennt man das große Geheimnis des Unbekannten, das die Wissenschaften nur enthüllen. In diesem Fall wird die Religion für unwichtig erachtet.
Wenn wir hingegen annehmen, dass die Wissenschaft jene unendlichen Geheimnisse enthüllen, die wir nicht wahrhaft erkennen können, so hat man Instrumente zur Verfügung, nämlich die Logik, die Vernunft und die Wissenschaft, durch die man einige Aspekte dieses großen Geheimnisses sehen kann. Und dann besteht kein Widerspruch. Ein japanisches Sprichwort besagt: Während der Strahl der Vernunft sich weitet, nimmt der Umkreis der Unwissenheit zu. Der Strahl der Vernunft ähnelt einem Laserstrahl, der in die Dunkelheit des Unbekannten vordringt. Je weiter man vorzudringen versucht, desto bewusster wird man sich, dass wir nichts wissen. Hätten wir die nötige Demut, müssten wir dies das Geheimnis des Unbekannten nennen. Es handelt sich um etwas Außergewöhnliches, das wir zutiefst respektieren müssen. Ich glaube nicht, dass man dazu unbedingt religiös sein muss, sondern die Fähigkeit, dieses Geheimnis zu erfahren, ist meiner Meinung nach existenziell für unsere Menschlichkeit.

Sehen Sie in diesem gegenwärtigen Kampf Hoffnung?

Einmal wurde ich nach meinem Lieblingssatz unter meinen Veröffentlichungen gefragt. Ich antwortete sofort: „Die Hoffnung ist der Sauerstoff des Menschlichen. Ohne ihn stirbt unser Geist, dank ihm können wir sogar scheinbar unüberwindliche Hindernisse überwinden“. Hoffnung und Mut ist das, was wir sowohl als Individuen als auch als Gesellschaft brauchen. Hoffnung und Mut sind eng miteinander verbunden, denn ohne Hoffnung kann man nicht mutig sein, denn das Risiko lohnt sich nicht.

Worauf fußt die Hoffnung?

Die Hoffnung besteht darin, sich mit der Zukunft verbunden zu wissen, zu spüren, dass das, was man jetzt tut, wichtig für die Zukunft ist: die Menschen haben diese Wahrnehmung verloren. Dank meiner Arbeit über das Thema Euthanasie sehe ich, wie wesentlich die Erkenntnis für den Menschen ist, dass sein Leben wichtig ist, dass es einen Sinn hat und dass er ein Erbe hinterlassen kann.

Wo sehen Sie die Hoffnung?

Wir ähneln kleinen grünen Trieben: wenn wir auch noch so oft niedergemäht werden, richten wir uns immer wieder auf. Ich sehe überall Hoffnung, auch in meinen Studenten.

In welcher Weise?

Zumindest liegt ihnen das Leiden am Herzen und sie stellen Fragen. Kürzlich habe ich in einem Beitrag zur Ethik des Klimawandels eine Definition des menschlichen Geistes eingefügt. Ich sagte, dass unsere Suche nach Sinn wesentlich ist und es notwendig ist, dass wir uns dem Sinn für das tiefe Geheimnis öffnen. Die Reaktion der Studenten hat mich überwältigt. Sie sagten: „Sie haben Recht. Wie können wir das machen? Was sollen wir tun?“ Dies war das Einzige, was sie an dem Vortrag beeindruckt hatte. Ich denke, sie haben die Abwesenheit der transzendenten Dimension erahnt und zumindest einige suchen sie. Andere standen dem feindlich gegenüber, aber ich denke das kommt nur daher, dass sie Angst haben vor der Vorstellung von der Existenz eines Geheimnisses.

Margaret Somerville ist Dozentin an der Fakultät für Recht und Medizin der McGill University Montréal. Zu ihren bekanntesten Veröffentlichungen gehören: The Ethical Canary. Science, Society and the Human Spirit (2000); Death Talk. The Case Against Euthanasia and Physician-Assisted Suicide (2002); The Ethical Imagination. Journeys of the Human Spirit (2006). Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen, darunter den Order of Australia und sechs Ehrendoktortitel. Sie ist Mitglied der kanadischen Royal Academy und wurde 2003 von einer internationalen Jury als Preisträgerin mit dem von der Unesco ausgeschriebenen Avicenna-Preis für Ethik in den Wissenschaften ausgezeichnet.