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Briefe
Briefe Mai 2010
Zusammengestellt von Paola Bergamini

Gabriel und die Zärtlichkeit Christi
Gestern Morgen kam ich zur Arbeit und die Kollegen des Nachtdienstes teilten mir mit, dass eine Frau kommen sollte, deren Baby nun am Ende der Schwangerschaft im Mutterleib gestorben sei. Die Wehen seien einzuleiten und die Frau sollte entbunden werden. Die ältere Kollegin sagte mir: „Du übernimmst sie!“ Die Frau kam und wir verbrachten zwölf Stunden miteinander. Am Anfang war es sehr schwierig, mit dem Ehepaar in Kontakt zu kommen; der Ehemann war gegenüber mir und seiner Frau sehr kühl, und die Frau war allein. Ich begann zu beten: Ich wollte verstehen, was es bedeutet, sich ergreifen zu lassen und ich habe den Herrn gebeten, sich ihnen und mir in diesen dramatischen Umständen zu zeigen. Ganz allmählich taute der Mann auf und sie vertrauten sich mir an. Je mehr Stunden vergingen, desto mehr wurde ich mir bewusst, dass ich ein Instrument in den Händen des Herrn bin. Während der Wehen hatte ich Gelegenheit, viel mit ihnen zu sprechen, und es ergab sich, dass ich diesen Eltern mitteilen konnte, was mein Leben trägt. Dieses Jahr war für mich sehr ermüdend, aber mir wurde klar, dass die Gewissheit gereift ist, in guten Händen zu sein. In der Müdigkeit, im Leid, durch eine große Wunde hindurch, ließ mich der Herr aufblühen, so dass er mich mit Bewusstsein sagen lässt: „Wenn Du so groß bist, mich wachsen zu lassen, sogar in der Müdigkeit, wie ein Wunder vor meinen Augen, dann möchte ich lernen, Dir mein ganzes Leben zu geben.“ Um halb sechs wurde Gabriel geboren. Anfangs wollten sie ihn nicht sehen. Ich ließ einige Minuten verstreichen, trocknete ihn ab und legte ihn in eine warme Decke. Dann bin ich still zu ihnen gegangen. Für mich war dies der schmerzhafteste Moment, weil ich als Hebamme eigentlich Kinder im Arm halte, die voller Leben sind. Nach einem Moment hat die Mutter die Arme ausgestreckt, den Kleinen genommen und zu mir gesagt: „Aber bleibe hier bei uns.“ Zwei Stunden lang sind wir vor diesem Kind geblieben. An einem bestimmten Augenblick sagte ich: „Wenn ihr möchtet, dann lasst uns ein Gebet sprechen“, dann habe ich ein Gloria gesprochen. Der Vater hat unmittelbar ein Vater unser angeschlossen, um beim „Dein Wille geschehe“ innezuhalten. Als wir das Ave Maria zu Ende gebetet hatten, schaute mich die Mutter an und sagte: „Er heißt Gabriel, so wie der Engel der Mutter Gottes … er hat es für sie zum Guten geführt.“ „Mein Herr und mein Gott“ − so kam es mir vom Herzen. Die Wandlung dieser Eltern, die Gnade der Zeit, die der Herr ihnen gab, um mit dieser Fülle ihrem Kind zu begegnen, hat mich wirklich überwältigt. Mich überrascht wirklich die Zärtlichkeit, mit der der Herr Sorge für mein Leben trägt.
Valentina

Lieber Herr Englaro
Wir veröffentlichen den Brief eines Freundes, der Buchhändler ist. Sein Laden ist neben dem Hotel, in dem Beppino Englaro, der Vater der Wachkomapatientin Eluana, während der vergangenen Wochen in Pesaro gewohnt hat. Englaro ist persönlich in den Buchladen gegangen, um sich bei unserem Freund für den Brief und das Plakat zu bedanken.
Lieber Herr Englaro. Verzeihen Sie mir, dass ich mir erlaube, Ihnen diese Zeilen zu schreiben. Ich konnte nicht umhin, Sie vor meinem Schaufenster zu bemerken und wiederzuerkennen. Dort liegen neben Ihrem kürzlich erschienenen Buch diverse andere Bücher zu Themen und Lebensumständen, ähnlich jenen, die Sie durchlebt haben. Die meisten aber von der Orientierung anders als das, was Sie trägt. Beim ersten Mal habe ich gesehen, wie Sie Ihren Begleiter durch einen Fingerzeig auf eines dieser „anderen“ Bücher aufmerksam machten. In diesem Moment kam mir wieder der riesige Schmerz in den Sinn, den Sie Jahre lang angesichts Ihrer Tochter durchlitten haben. Ich erinnerte mich an meine Schwester, die gestorben ist, nachdem sie ebenfalls jahrelang im Koma gelegen hatte. Was hat mir armen Menschen erlaubt, die Umstände, die Ihren so ähneln, auf eine so andere Art zu leben? In diesen Tagen ist das Osterplakat von Comunione e Liberazione veröffentlicht worden, einer Bewegung, der ich angehöre. Als ich es anschaute und die Sätze dort las, kam mir in den Sinn, Ihnen eines zu geben. Ich versichere Ihnen, dass in dieser kleinen und banalen Geste nicht der geringste Anflug von Provokation, Propaganda oder Ideologie ist, sondern nur der Wunsch, dass Sie wie es auch jedem anderen Menschen dieser Welt geschehen möge, die Erfahrung einer väterlichen Umarmung machen, die Ihre ganze Person, ihr ganzes Leid umfängt – so wie es mir geschehen ist. Entschuldigen Sie diese meine „Zudringlichkeit“. In Freundschaft
Antonio, Pesaro

Im Betrieb
Wir sind seit vielen Jahren eine kleine Gemeinschaft innerhalb der Telefongesellschaft Italtel. Die im Betrieb verkündete Krise hat uns bewogen, die Ereignisse nicht an uns abprallen zu lassen, sondern uns zu treffen, um die Dinge gemeinsam zu beurteilen. Wir organisierten eine Begegnung mit der Gewerkschaft, um die Situation zu klären und Fragen stellen zu können. Wir schlugen dies auch anderen Kollegen vor. Wir bemerkten, dass es nicht genügte, zu „verstehen“. Um zu verstehen, muss man die eigene Erfahrung ins Spiel bringen und ein Urteil über das, was geschieht, riskieren. Ein Urteil konnte für uns nur von der Tatsache ausgehen, dass wir Christus begegnet sind und diese Begegnung in der Arbeit untereinander leben. Dadurch kam die Idee auf, ein Flugblatt zu verfassen, das wir am schwarzen Brett veröffentlichten und Kollegen und Freunden vorschlugen. Wir schlugen auch ein festes wöchentliches Treffen vor. Beim ersten Treffen gab es vier neue Gesichter. Einer dieser „Neuen“ sagte uns am Ende, er sei enttäuscht, weil er einen größeren inhaltlichen Bezug auf das Flugblatt erhofft hatte. Wir fragten uns: Was sucht diese Person bei uns? Eine bessere Problemlösung oder dass jemand mit ihm über Christus spricht? Es wurde klar, warum wir dort zusammen waren: wir wollten in unserer Arbeit für den in unserem Leben gegenwärtigen Christus Zeugnis ablegen. Dieses Bewusstsein gab uns die neue Freiheit, allen fast ohne Angst zu begegnen: Kollegen und Gewerkschaftern − wir suchten politische Ansprechpartner, die sich unseres Falls annehmen könnten. Für andere wurden wir zum Bezugspunkt. Jeden Morgen, wenn wir an die Arbeit zurückkehren, stellt sich die Frage wieder neu, denn die Wirklichkeit ändert sich, neue Dinge geschehen, Probleme tauchen auf. Das, was uns Gewissheit gibt, muss immer wieder neu ins Spiel kommen. Wir wissen nicht, wie es enden wird, ob mit Kurzarbeit oder Arbeitsplatzverlust. Was uns aber interessiert, ist, diese Zeit, diese unsere tägliche Wirklichkeit intensiv zu leben und ihre Bedeutung zu erfragen: alles andere macht Christus.
Marta