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Editorial
Wir setzen auf eine Fülle
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Es gab unlängst einen Moment, da hielt das Gewitter, das derzeit über der Kirche niedergeht, einen Augenblick inne. Für einen jener kurzen Augenblicke nur, in denen man den Atem anhält und sich staunendes Schweigen ausbreitet. Es war der Moment als der Papst weinte, auf Malta, in Gegenwart einiger Missbrauchopfer. Sie berichteten ihm von ihrem Schmerz und ihren Verletzungen. Und er nahm ihren Schmerz und ihre Verletzungen entgegen, ja drang bis zum Grund ihres Schmerzes vor und war zu Tränen gerührt. Auch abgebrühte Medienvertreter hielten überrascht ein – wenn auch nur einen Augenblick. Tags darauf waren sie – waren wir – schon wieder mit anderem beschäftigt. Allzu bereit zu verdrängen, zu vergessen, zu banalisieren.
Wovon konnte man auf Malta Zeuge werden? Von der väterlichen Menschlichkeit Benedikts, seiner Feinfühligkeit. Auch wenn sie viele nicht wahrgenommen werden mag, so kommt sie doch in ihrer ganzen Intensität zum Ausdruck. Ebenso der Mut. Denn es braucht Mut, denen ins Gesicht zu schauen, die wegen der Vergehen der Geistlichen, so viel leiden mussten. Doch all dies reicht nicht, um seine Tränen zu verstehen und vor allem das, was sie bewirkt haben: Sie haben den Opfern einen (undenkbaren) Frieden geschenkt, wie in dieser Ausgabe von Spuren nachzulesen ist. Also von etwas, das nach menschlichem Ermessen unmöglich scheinen mag.

Die Geste des Papstes umfasste mehr als nur die Rührung eines Menschen. Sie umschloss das Herz des Christentums. Denn das Christentum ist nicht einfach eine Ansammlung von Geboten und guten Werken. Es ist eine Beziehung: die Umarmung des Menschen durch eine Barmherzigkeit, die geheimnisvoll ist und ohne Maß. Eine Umarmung durch eine geheimnisvolle Gegenwart, die sich unseren Maßstäben entzieht: Christus. Denn eines ist offensichtlich und Don Julián Carrón formulierte es auf den Exerzitien der Fraternität von CL so: „Wenn das Ereignis Christi zur Doktrin geronnen ist oder auf eine Ethik oder eine Frömmigkeit verkürzt wird, dann ist es nicht mehr in der Lage, den ganzen Menschen in seiner Menschlichkeit aufzurichten und Stand zu halten angesichts der wahren menschlichen Nöte und Bedürfnisse. Nur dank seiner Leidenschaft für Christus war der Papst in der Lage, der Situation ins Auge zu blicken – ohne Angst vor möglichen Folgen. Er konnte die Situation anpacken, weil er eine Gewissheit hat, weil er ganz auf die Fülle der einzigartigen Gegenwart Christi baut, die es ermöglicht so zu handeln.“ Auch „wir könnten unser Bedürfnis nach Gerechtigkeit, all die Bedürfnisse unseres Ichs nur dann ertragen, ohne sie auf die medial vermittelten Bilder zu verkürzen, wenn wir auf eine Fülle setzen, auf die Gegenwart Christi. Auf die Gegenwart Christi hier und jetzt. Um die eigene Menschlichkeit ganz leben zu können, ist es entscheidend, seine Gegenwart zu erfahren. Es ist nur möglich, wenn das Geheimnis im Spiel ist. Nur das Göttliche kann das Menschliche retten.“

Der Papst ist nicht einfach eine Symbolfigur, jemand an dem man sich abreagieren kann, um sich einer Institution zu entledigen, die der Welt mit ihrem Anspruch lästig ist. Er ist nicht eine Fahne, die man hochhält, je nach dem auf welcher Seite man steht. Petrus ist eine reale Gegenwart. Er ist die Freundschaft, die Christus dem Menschen anbietet, hier und heute. Er eröffnet die Möglichkeit, das Christentum als das zu erleben, was es ist: die Beziehung mit einem Du – mit dem Geheimnis Gottes, das von dir ergriffen ist.
Deshalb werden wir am 16. Mai beim Regina Coeli auf dem Petersplatz in Rom alle mit dabei sein. „Wir wollen uns um den Heiligen Vater scharen, wie Kinder um ihren Vater, die ihn in seinem anspruchsvollen Dienst unterstützen und ihm ihre Zuneigung und Dankbarkeit für seine Leidenschaft für Christus und die ganze Menschheit bekunden wollen“, wie es in einem Text heißt, mit dem verschiedene kirchliche Bewegungen und Verbände nach Rom einladen haben. Wir wollen mit diesem Gestus aber auch jenen Tränen und den offenen Armen nachgeben. Dem Du Gottes, das von meinem Ich ergriffen ist.